Sarah Spale erfindet die Medea neu – für die Jetztzeit
22.08.2025 Kultur, SissachUnser Gastautor Bänz Friedli verneigt sich vor der Basler Schauspielerin – eine Ode
Theater auf dem Lande, und dann noch die Medea? In Sissach? Da gehe die Theatercompany «Texte und Töne» ein Wagnis ein, denke ich; fahre hin – und bin hin und weg.
Dass ...
Unser Gastautor Bänz Friedli verneigt sich vor der Basler Schauspielerin – eine Ode
Theater auf dem Lande, und dann noch die Medea? In Sissach? Da gehe die Theatercompany «Texte und Töne» ein Wagnis ein, denke ich; fahre hin – und bin hin und weg.
Dass Hauptdarstellerin Sarah Spale, die auch schon in Komödien im Basler «Fauteuil» zu sehen war, keine noch so anspruchsvolle Rolle scheut, wissen wir spätestens seit «Platzspitzbaby». In «Medea» übertrifft sie sich selbst.
Der Stoff: klassisch. Das Stück: oft gespielt und seit je umstritten. Nicht, dass die griechische Antike in Mythologie und Literatur keine starken Frauen gekannt hätte. Sie brachte mit Sappho von Lesbos gar eine der bedeutendsten Dichterinnen der Geschichte hervor. Dennoch schuf Euripides 431 vor Christus eine Figur, die das Publikum jener Zeit überforderte: Seine Medea fiel durch. Sie sollte noch über Jahrhunderte verfemt und missverstanden bleiben: eine starke Frau, die nahezu Unmögliches bewerkstelligt … In der damaligen Vorstellung eine «Zauberin». Dank ihrer besonderen Gaben rettet sie ihren Mann und ermöglicht ihm die Flucht. Doch im Exil sind ihre Talente nicht mehr gefragt. Er will sich ihrer und der gemeinsamen Kinder entledigen und um des sozialen Aufstiegs willen eine Königstochter heiraten. Worauf Medea radikal handelt, die Braut und gar die eigenen Kinder tötet – aus Rachsucht, wie stets interpretiert wurde.
Hohe Qualität
Sarah Spale aber spielt auf der kreisrunden Sissacher Freiluftbühne eine Verzweifelte, Verratene, Verwundete. Sie tut es grandios. Mit Leib und Seele verkörpert Spale ihre Medea, mit Haut und Haaren. Sie trägt die Inszenierung und den Abend, reisst die Mitspielerinnen mit. Sie zeigt uns eine Liebende, von Trauer getrieben, zuweilen hypnotisch erschöpft – und doch in jeder Sekunde präsent, mit jedem Blick präzis, in jeder Regung stimmig. Einmal, für Augenblicke nur, ist sie Löwin; sie hat den Gang des Tieres genauestens beobachtet. Während des fingierten Abschlags eines Golfballs schaut sie dem imaginierten Ball nach, ohne freilich den Kopf zu drehen; nur Augäpfel und Pupillen verfolgen die Flugbahn.
Im Fussball ist vom «Spiel ohne Ball» die Rede, im Theater zeigt sich die Qualität der Darstellerin, wenn die Rolle gerade nicht aktiv, nicht sprechend ist. Sarah Spale schauspielert nicht einfach, sie ist während voller zweier Stunden Medea. Über Monate hat sie sich, wie in der «Volksstimme» zu lesen war, die Figur angeeignet – die sie überdies als Altgriechisch-Maturandin vermutlich schon aus der Schule kannte.
Trauer statt Zorn
Was wurde in den über 2450 Jahren seit der Erstfassung nicht alles in Medea gesehen! Bis zum Überdruss wurde die Rolle ausgewrungen und noch das letzte Klischee aus ihr gepresst: Medea als Monster, Rächerin, Rabenmutter, als Furie, blind vor Wut … Sarah Spale aber nähert sich der Figur ganz neu, erfindet sie gleichsam für die Jetztzeit. Sie nimmt sich ihrer zärtlich an. Statt zornig gibt sie die Medea voller Trauer; nicht trotzig, sondern voller Schmerz. Und ungemein mitfühlend: Medea als waidwundes Tier und doch ganz Mensch, ganz Mutter. Eine Frau, die um ihre Würde ringt. Spales Medea ist eine Verletzte. Wenn, dann handelt diese Frau aus desperater Ohnmacht. Nicht aus Rache.
Mutig und richtig, dass die Sissacher Truppe es beim Originaltext belässt. Denn er hat Kraft. Das Neuentdecken liegt in Achtsamkeit und Sorgfalt, in Feinheit und Finessen des Spiels. Eröffnet wird der Abend von Claudia Adrario als Amme. Wie im ähnlich gelagerten Stück «Empusion» am Theater Basel, welchem «Medea» in nichts nachsteht, werden sämtliche Figuren von Frauen gespielt. Der Kniff ist, dass Anna Sonnenschein, Sophie Eglin und Julia Sewing unentschlossene männliche Machthaber darstellen, zugleich aber Frauen zeigen, die sich selbst ermächtigen. Was Kaspar Geigers Inszenierung äusserst zeitgemäss macht.
Das über Jahrhunderte gehegte Motiv der Rache ist kaum spürbar. Mit ihrer Medea hat Sarah Spale sich nicht nur versöhnt, sie mag sie. Die Zuschauenden leiden mit, sind zuletzt ob der Ausweglosigkeit ergriffen: Das Opfer ist zur «Täterin» geworden. Und natürlich ist das politisch und hochaktuell.
Theater auf dem Lande? Grosses Theater sogar. In Sissach.
Bänz Friedli
«Medea» wird auf dem Nebiker-Areal bis zum 31. August gezeigt.
Der Autor und Kabarettist Bänz Friedli gastiert von 6. bis 8. November im Basler «Tabourettli» und am 13. März 2026 im «Marabu» in Gelterkinden.