Sag mir, wo die Pazifisten sind
06.06.2025 PersönlichIn der achten Klasse haben wir im Geschichtsunterricht die Schrecken des 2. Weltkriegs diskutiert. Das war Ende der 1990er-Jahre, und damals waren sich alle einig: So etwas darf sich in der Menschheitsgeschichte nie, niemals wiederholen. Insgesamt bin ich in einer Zeit aufgewachsen, in der in ...
In der achten Klasse haben wir im Geschichtsunterricht die Schrecken des 2. Weltkriegs diskutiert. Das war Ende der 1990er-Jahre, und damals waren sich alle einig: So etwas darf sich in der Menschheitsgeschichte nie, niemals wiederholen. Insgesamt bin ich in einer Zeit aufgewachsen, in der in Europa breiter Konsens darüber herrschte, dass ein friedliches Zusammenleben möglich sein muss. Dass die Grauen der beiden Weltkriege sich nie wiederholen dürfen, aber auch nicht werden, weil die Menschheit doch daraus gelernt haben muss. Mir klingen auch noch die Erklärungen deutscher Uni-Kollegen in den Ohren, dass die EU in erster Linie ein Friedensprojekt sei und sich insbesondere Deutschland aufgrund seiner Geschichte nie wieder in einen Krieg verwickeln lassen werde. In den politischen Kreisen, in denen ich mich damals und später bewegte, war man sich einig: Mit Waffen wird niemals Frieden geschaffen. Niemals. Meine persönliche Überzeugung lautete ausserdem: Die Schweiz, so umstritten ihre Rolle im Zweiten Weltkrieg gewesen sein mag, wird immer neutral sein und sich niemals auf die Seite einer Kriegspartei schlagen, mit Waffen sowieso nicht, aber mit Sicherheit auch nicht rhetorisch.
All das fühlt sich an wie in einer anderen Zeit. Die Schweiz hat sämtliche Sanktionen der EU gegen Russland übernommen, die politische Rhetorik ist alles andere als neutral. Linke Politiker sprechen offen von der Dringlichkeit, Waffen an die Ukraine zu liefern. In Deutschland wird praktisch täglich über die «Aufrüstung für den Frieden» geschrieben. Über ein Umdenken, das in Europa nötig sei, denn manchmal sei Frieden gefährlicher als Krieg. Wie bitte? Die EU-Chefdiplomatin Kaja Kallas spricht über die Notwendigkeit eines militärischen Sieges der Ukraine, weil die Zeit für Friedensverhandlungen noch nicht gekommen sei. Ähm, was? Ich reibe mir längst nicht mehr die Augen, aber denke, dass die Welt wirklich auf dem Kopf steht. Denn wer fordert gleichzeitig eine diplomatische Lösung dieses Konflikts? Nicht etwa die vereinten Linken Europas. Sondern tatsächlich die Amerikaner unter Trump. Nachdem die USA ihre eigene Waffenindustrie ordentlich angekurbelt und amerikanische Grosskonzerne wesentliche Teile der ukrainischen Land- und Bodenschätze aufgekauft haben, notabene. Und weil der Rückhalt in der amerikanischen Bevölkerung für diesen Krieg massiv gesunken ist.
Der Rückhalt in Europa wird derweil aufrechterhalten mit einer rhetorischen Drohkulisse. Putin wird mit Hitler verglichen und die These aufgestellt, dass Russland als nächstes «uns» überrennen werde. Dass Russland weder die notwendige militärische Stärke (was zu Beginn des Konflikts noch als unbestritten galt) noch jemals entsprechende Ambitionen geäussert hat – geschenkt. Dass Russland im 2. Weltkrieg von den Alliierten mit Abstand am meisten Menschen verlor, ebenfalls.
Ich bin für Frieden. Für Diplomatie. Und ich frage mich, wo die Pazifisten Europas sind – wo sind sie geblieben?
Laura Grazioli, geboren 1985, ist Landwirtin und ehemalige Landrätin. Sie lebt mit ihrer Familie in Sissach.