Reck und Lyrik
05.12.2025 PersönlichDas Kind kam von der Schule und zuckte mit der Schulter, als ich fragte, wie der Tag gewesen sei. «Prüfung», sagte es. «In welchem Fach?» – «Sport. Geräteturnen. Am Reck.» – «Mein Beileid!», rutschte mir raus, was pädagogisch ...
Das Kind kam von der Schule und zuckte mit der Schulter, als ich fragte, wie der Tag gewesen sei. «Prüfung», sagte es. «In welchem Fach?» – «Sport. Geräteturnen. Am Reck.» – «Mein Beileid!», rutschte mir raus, was pädagogisch eventuell nicht optimal war. Ich hätte besser rufen sollen: «Grossartig! Da lernst du was fürs Leben! Was habt ihr geprüft? Den Salto Mortadella?» Doch das Wort «Geräteturnen» erinnert mich an dunkle Momente der eigenen Schulzeit.
So ist es, wenn man Kinder hat: Man darf durch sie noch einmal die eigene Kindheit erleben, wenn auch aus einem ganz anderen Blickwinkel. Und eben: die Erinnerungen an gewisse Begebenheiten. Wie man selbst an der Reckstange hing, vor 40 Jahren, in Gelterkinden, hin- und herschaukelte, mehr schlecht als recht, die Gravitation den feisten Bubenleib gen Erdmittelpunkt zog, das T-Shirt hochgerutscht, der bleiche Bauch blank – und wie die Mädchen von draussen durch das grosse Fenster der Hofmatt-Turnhalle blickten, lachend und feixend. Ich hasste es; ich litt – vor allem, als mein Griff versagte, die Erdanziehung obsiegte, ich von der Reckstange glitt und mir den Arm brach. Dies ist eine der lebhaftesten Erinnerungen an meine gesamte Schulzeit überhaupt! Und ich frage mich heute, was ich mich damals fragte: Weshalb den Leistungsdruck auch in das Fach Sport tragen? Weshalb können Kinder nicht einfach positive Körpererfahrungen machen, mit Spiel und Spass und ohne Noten?
«Und was steht morgen an?», wollte ich wissen. «Deutschprüfung», sagte das Kind und verdrehte die Augen. «Ich muss ein Weihnachtsgedicht vortragen, dann interpretieren und analysieren.» – «Welches Gedicht?» – «‹Kinder vor einem weihnachtlichen Schaufenster› von Manfred Hausmann». Ich nickte wissend, obwohl mir der Name nichts sagte, weder der des Gedichts noch jener des Lyrikers. Aber ich googelte. Hausmann wurde im späten 19. Jahrhundert geboren, war Romanautor, Laienprediger, Naturfreak. Und in der Nazizeit hat er fleissig Bücher veröffentlicht, war Mitläufer und Profiteur, schrieb Zeitschriftenartikel voller Pathos: «Im Deutschland von 1940 gehört das Buch zum Schwert, das Schwert zum Buch, gehört der Dichter zum Soldaten und der Soldat zum Dichter.»
Sein Weihnachtsgedicht erschien 1941. Es ist frei von Kriegsgerassel, aber es scheint mir doch einigermassen seltsam, diesen Namen in einem Schulgedichtband zu finden. Und vor allem: Das Gedicht ist schlecht. Was soll ein Kind von heute mit einem Gedicht von damals anfangen? Aber auch das sagte ich nicht, sondern: «Na dann lern mal schön!» Das Kind antwortete: «Nächste Woche haben wir wieder eine Prüfung. Am Stufenbarren.»
Und ich dachte: Alles ist anders als vor 40 Jahren. Aber alles ist noch genau gleich.
Max Küng wurde 1969 geboren und ist auf einem Bauernhof in Maisprach aufgewachsen. Heute lebt er mit seiner Familie in Zürich und ist ein landesweit bekannter Kolumnenschreiber.

