«Pratteln kristallisiert sich als Ort mit hohem Gewaltpotenzial heraus»
05.09.2024 BaselbietDie Jugenddelinquenz hat im Kanton Baselland innert Jahresfrist um 57 Prozent zugenommen. Als Gründe dafür nennt Jugendanwältin Corina Matzinger mehrere Krisen seit 2020, Geltungsdrang oder Flüchtlingsbewegungen. Sie fordert mehr Personal.
Thomas ...
Die Jugenddelinquenz hat im Kanton Baselland innert Jahresfrist um 57 Prozent zugenommen. Als Gründe dafür nennt Jugendanwältin Corina Matzinger mehrere Krisen seit 2020, Geltungsdrang oder Flüchtlingsbewegungen. Sie fordert mehr Personal.
Thomas Immoos
Frau Matzinger, worauf ist die starke Zunahme von Delikten Jugendlicher und damit der Arbeitslast der Jugendanwaltschaft (Juga) Baselland zurückzuführen?
Corina Matzinger: Die Arbeitslast hat sich aufgrund mehrerer unterschiedlicher Faktoren um ein Vielfaches erhöht. Sie hat seit zehn Jahren sogar einen absoluten Höchststand erreicht. Einen ausserordentlichen Anstieg von 57 Prozent gab es bei den zur Anzeige gebrachten Delikten. Gleichzeitig hatten wir auch eine erhebliche Zunahme bei den beschuldigten Kindern und Jugendlichen zu verzeichnen (plus 25,8 Prozent). Das heisst, wir haben uns mit viel mehr jungen Menschen in Strafverfahren zu befassen, und diese grosse Anzahl Beschuldigter hatte zudem in erheblichem Ausmass auch eine viel grössere Anzahl von Delikten verübt. Zum Vergleich: Bei der Staatsanwaltschaft hat die Fallzahl im gleichen Zeitraum nur um 898 oder 3,4 Prozent zugenommen, während es bei der Juga 1289 zusätzliche Fälle waren.
Was bedeutet diese massive Fallzunahme für die Jugendanwaltschaft?
Wir hatten auch Höchststände bei den Einvernahmen und im Pikettdienst (Zunahme: 68 Prozent). Das bedeutet, dass wir an 365 Tagen im Jahr, an 7 Tagen der Woche über 24 Stunden auf Untersuchungs- und Leitungsebene Pikett sicherstellen müssen. Bei der Juga sind wir in der Leitung bisher drei Personen mit Kaderpikett. Leider hat die Zunahme von Fällen auch eine längere Dauer der Verfahren zur Folge. Dies ist ein klarer Nachteil: Gerade Kinder und Jugendliche brauchen eine rasche Reaktion und zeitnahe Sanktionen.
Sind die Fälle komplexer geworden?
Bei den Haftfällen gab es eine Vervierfachung: von 15 auf 62, also eine Zunahme von 313 Prozent. Zudem sind diese zeitlich vordringlich, die Suche nach Plätzen für die Untersuchungshaft ist schwierig, da die Gefängnisse voll sind. Hinzu kommt, dass immer ein Rechtsanwalt, häufig auch ein Dolmetscher, beigezogen werden muss. Und es stellen sich ganz viele praktische Fragen rund um die Haftsituation.
Welche?
Es geht zum Beispiel um Besuche und besorgte Eltern, um Kleider und um beschlagnahmte Handys. Auch müssen Schule und Lehrmeister informiert werden und vieles andere mehr. Die Fälle mit einem hohen technischen Ermittlungsaufwand, also mit Auswertung von umfangreichem Bildund Filmmaterial, Chatprogrammen und so weiter, haben zugenommen. Im Weiteren sind wir bei den Kindern und Jugendlichen vermehrt mit äusserst komplexen Persönlichkeitsstrukturen, Mehrfachbelastungen und problematischen Familienstrukturen konfrontiert.
Mit welcher Konsequenz?
Die Fälle werden auf der Ebene der Pädagogik, Psychologie und allgemeinen Umstände und Zustände, in denen wir Jugendlichen begegnen, sehr viel komplexer und aufwendiger. Es müssen beispielsweise Abklärungen zur Person – unter Einbezug der Schulen und der Kesb – erfolgen: Häufig muss ein Platz für einen Beobachtungsaufenthalt gefunden werden, also ein Platz in einem Kompetenzzentrum für Jugendliche mit hohem Förderund Schutzbedarf. Dann müssen Gutachter gefunden und vorsorgliche Massnahmen getroffen werden.
Was sind die Auswirkungen auf den Straf- und Massnahmenvollzug?
Auch dort kommt es zu Mehrfachbelastungen. Und es herrscht ein Mangel an geeigneten Fachpersonen sowie an Institutionen und Einrichtungen für Jugendliche mit komplexen, insbesondere psychischen Problemen.
Gibt es bei den Straftaten regionale Unterschiede im Baselbiet?
Aufgrund der höheren Bevölkerungsdichte und entsprechend der höheren Anzahl Jugendlicher kann davon ausgegangen werden, dass in den stadtnahen Gemeinden mehr Delikte verübt werden.
Gibt es Hotspots?
Einen eigentlichen Hotspot – über die Jahre betrachtet – haben wir nicht. Orte mit Bahnhöfen und/oder Sekundarschulanlagen I und II, die eine Zentrumsfunktion haben, sind bekanntermassen eher Treffpunkte junger Personen und können Orte mit erhöhtem Gewaltpotenzial sein. Seit vergangenem Jahr kristallisiert sich Pratteln als Ort mit hohem Gewaltpotenzial heraus.Weiter sind gemäss Jugenddienst der Baselbieter Polizei Jugendliche mit Bezug zum Erlenhof, eine Tages- und Heimstruktur, regelmässig übervertreten – ebenso seit vergangenem Frühling Jugendliche aus Maghreb-Staaten, also Tunesien, Algerien und Marokko.
Worauf führen Sie die Zunahme der Jugenddelinquenz zurück?
Es gibt von unserer Seite her keine gesicherten Erklärungen. Es gibt auch nicht eine einzige Ursache für die Jugendkriminalität, sondern sie ist das «Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels von individuellen, familiären, schulischen, relationalen, sozialen, kulturellen und umweltbedingten Faktoren», wie eine Studie gezeigt hat. Die Erklärung für die Entwicklung der Jugendkriminalität im Kanton Baselland ist zudem grundsätzlich immer mit Unsicherheiten belastet. Als Jugendanwaltschaft können wir diesbezüglich aber Beobachtungen und Tendenzen aufzeigen und Massnahmen vorschlagen.
Was für mögliche Gründe sehen Sie?
Die möglichen Gründe sind vielfältig. Zu nennen sind etwa folgende Beobachtungen und Tendenzen: Multikrise seit 2020 oder auch Geltungsdrang, der zunehmende Druck und die zunehmenden hohen Erwartungen an die Jugendlichen. Die Jugendanwaltschaft verfügt über gewisse Hinweise, dass die Fallzunahme nicht nur mit den europaweit angestiegenen Flüchtlingszahlen, sondern auch mit der Verschiebung einer Süd-Nord-Fluchtroute, neu durch die Nordwestschweiz, zu tun hat. Es besteht aktuell inzwischen ein hohes öffentliches Interesse an der zeit- und sachgerechten Verfolgung von straffälligen Jugendlichen aus dem Maghreb. Zudem sind im ganzen Kanton Anzeichen vorhanden, dass sich wieder grössere einheimische Jugendgruppen mit Gewaltaffinität zu formieren beginnen.
Welche Massnahmen können hier getroffen werden?
Um die Zahl der Straftaten zu vermindern, sind – insbesondere angesichts der dramatischen Fallzunahme – verstärkte personelle Ressourcen im repressiven, aber auch im präventiven Bereich, gerade im Kinder- und Jugendbereich, zentral. Aus Sicht der Jugendanwaltschaft Baselland handelt es sich bei den im Jahresbericht 2023 erwähnten dramatischen Fallzunahmen nicht nur um eine einmalige oder vorübergehende ausserordentliche Zunahme im Vergleich zum Vorjahr, sondern um eine im Mehrjahresvergleich (2017 bis 2023) inzwischen ausgewiesene Tendenz zu steigenden Fallzahlen mit einer Spitze im Corona-Jahr 2020. Damit gehen Mehrbelastungen im Sach- und Betriebsaufwand sowie bei den Personalressourcen einher.
Schweizweit ist zu vernehmen, dass Jugendliche häufig ein Messer mit sich tragen. Ist dies auch im Kanton Baselland festzustellen?
Eine neuere Studie kommt zum Schluss, dass schweizweit rund jeder fünfte männliche Jugendliche und jede zehnte weibliche Jugendliche im Ausgang, aber zum Teil auch bei anderen Gelegenheiten, etwa in der Schule, zum «Eigenschutz» und zum Schutz der «Peers», der Anführer einer Gruppe, ein Messer mit sich trägt. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Baselbieter Jugendlichen hier keine Ausnahme bilden.
Was sind die Gründe für dieses Verhalten?
Gemäss der erwähnten Studie haben sich vor allem zwei Faktoren als bedeutsam herausgestellt: Jugendliche, die externalisierende Verhaltensauffälligkeiten aufweisen – hier werden innere Konflikte, Probleme oder negative Emotionen nach aussen gerichtet –, neigen stärker zum Tragen von Messern. Ebenso zeigte die Studie, dass ein höherer Alkohol- sowie Drogenkonsum mit häufigerem Messertragen einhergeht. Bestätigt wurde auch die These der differenzialen Assoziation, die davon ausgeht, dass der Kontakt mit «Peers», die selber Messerträger sind, die Bereitschaft erhöht, ein Messer mit sich zu führen. Die Selbstschutz-These lässt sich nicht eindeutig belegen. Auffällig ist wiederum, dass Befragungen ergaben, dass Opfer von Cyberbullying, also Belästigungen im Netz, signifikant häufiger ein Messer mit sich tragen, was in gewisser Weise der Selbstschutz-These entspricht.
Gibt es (negative) Vorbilder, etwa Brian «Carlos» Keller?
Das kann durchaus sein. Jedoch haben wir dazu weder konkrete Angaben noch Zahlen.
Was lässt sich dagegen tun – im Elternhaus, im Kollegenkreis, in der Schule oder am Arbeitsplatz?
Prävention in allen aufgeführten Strukturen steht im Vordergrund; dies ist auch der Ansatz der Jugendanwaltschaft sowie des Jugenddienstes der Polizei Basel-Landschaft. Wir orientieren uns dabei am Bericht zur Jugenddelinquenz in der Schweiz vom Oktober 2022.