November – wenn die Welt stiller wird
31.10.2025 BaselbietErinnerung, Einkehr und Licht im Dunkel
Schon klopft der November an. Der elfte Monat wirkt unscheinbar und trüb: Nebel ziehen über Felder und Strassen, und wenn sie sich lichten, übernimmt der Regen die Bühne – als wolle der Himmel alle Tränen des Jahres in ...
Erinnerung, Einkehr und Licht im Dunkel
Schon klopft der November an. Der elfte Monat wirkt unscheinbar und trüb: Nebel ziehen über Felder und Strassen, und wenn sie sich lichten, übernimmt der Regen die Bühne – als wolle der Himmel alle Tränen des Jahres in einem grossen Finale vergiessen.
Hanspeter Gautschin
In Gärten und Wäldern herrscht Stille. Der Frost hat die Dahlien dahingerafft, Astern und Chrysanthemen halten noch stand, und hie und da wagt sich eine letzte Vogelmiere, eine Wildpflanze, oder ein Hahnenfuss hervor – aber das ist mehr Geste als Gedeihen. Die Natur zieht sich zurück, ordnet sich neu.
Auch die Tiere folgen diesem Rhythmus: Frösche, Kröten und Molche vergraben sich im Schlamm, Igel rollen sich ein, Fledermäuse hängen still in ihren Quartieren. Hasen und Rehe tragen dichtes Winterfell, bereit für die lange, karge Zeit.
Erinnerung und Ewigkeit
Der November ist der Monat des Gedenkens. An Allerheiligen (1. November) und Allerseelen (2. November) werden die Heiligen und Verstorbenen geehrt. Auf Friedhöfen brennen Kerzen, Kränze liegen auf den Gräbern, und in manchen Häusern leuchtet ein Licht für jene, die vorausgegangen sind.
Die reformierte Kirche stand einem solchen «typisch katholischen Totenkult» lange ablehnend gegenüber. Stattdessen entwickelte sie eigene Formen des Erinnerns – allen voran den Ewigkeitssonntag (auch Totensonntag genannt), der jeweils am letzten Sonntag des Kirchenjahres, also am Sonntag vor dem ersten Advent, begangen wird. Er erinnert an die Vergänglichkeit – und zugleich an das, was bleibt.
Lichter im Nebel
Im Oberbaselbiet gehörte das Einheimsen der «Duurlips», der Futterrüben (Beta vulgaris), einst zu den letzten Feldarbeiten des Jahres. Wenn die Rüben heimgebracht waren, höhlten Kinder einzelne Exemplare aus, schnitzten Fratzen und setzten ein Kerzlein hinein. Diese einfachen Lichter auf Fenstersimsen oder Treppenstufen leuchteten gegen das frühe Dunkel.
Mit dem Aufkommen des Silomaises verschwanden die «Duurlips» aus den Dörfern – und mit ihnen die «Duurlips»-Lichter. Erst in den 1970er-Jahren kehrte der Brauch in neuer Form zurück: mit den «Rääbeliechtli»-Umzügen der Kindergärten, bei denen Kinder ihre geschnitzten weissen Speiserüben (Brassica rapa) durch die Gassen tragen.
Am Martinstag (11. November) erinnert man an den Heiligen Martin von Tours, der seinen Mantel mit einem Bettler teilte. In vielen katholischen Orten wird dieser Tag mit Laternenumzügen, Martinsfeuern oder Gänsebraten gefeiert – als Symbol des Teilens und des Lichts in der Dunkelheit.
Für das Oberbaselbiet hatte der Tag noch eine andere Bedeutung: Er war Zinstermin und Markttag zugleich. In Sissach fand an Martini der grösste Markt der Region statt – ein Volksfest mit Viehhandel, Warenständen und geselligem Treiben. Bauern, Händler und Handwerker kamen von weit her; die Kantonalbank zählte an diesen Tagen besonders viele Kundinnen und Kunden.
Der traditionelle Martinimarkt in Sissach – längst «Herbstmarkt» genannt – hat spätestens seit 2008 mit der Einführung der Begegnungszone ein etwas anderes Gesicht bekommen. Er findet aber nach wie vor im November statt und ist immer noch der bedeutendste Markt im Oberbaselbiet. Er umfasst neben den klassischen Marktständen auch einen Landmaschinenund Flohmarkt und übernimmt so die Rolle des früheren Martinimarkts.
Heutige Rituale im November sind:
– Licht für die Erinnerung: Eine Kerze auf ein Grab stellen – oder auf den eigenen Tisch. Ein stiller Moment, ein Name, ein Dank.
– «Rääbeliechtli»-Abend: Ein Licht in eine ausgehöhlte Rübe setzen – als Gruss an die alten «Duurlips» und als Zeichen, dass Erinnerung weiter leuchtet.
– Zeit der Einkehr: Ein Spaziergang im Nebel; ein Innehalten.
– Das sich bewusst werden, dass das Wesentliche im Unsichtbaren wohnt.
Der November ist kein grauer Schattenmonat. In seiner Kargheit liegt Klarheit, in seiner Stille Wahrheit. Wenn draussen alles leiser wird, öffnet sich innen ein Raum für das Wesentliche. Das ist sein Geschenk.

