Nach Odyssee im Waldenburgertal gelandet
16.11.2023 NiederdorfEin 17-jähriger Flüchtling aus Afghanistan erzählt seine Lebensgeschichte
Den Vater verloren, den Bruder verloren, eine Flucht voller Zufälle und Widerwärtigkeiten, Heimweh – Reza Ebrahimi hat in den letzten Jahren einiges durchgestanden. Jetzt hofft der ...
Ein 17-jähriger Flüchtling aus Afghanistan erzählt seine Lebensgeschichte
Den Vater verloren, den Bruder verloren, eine Flucht voller Zufälle und Widerwärtigkeiten, Heimweh – Reza Ebrahimi hat in den letzten Jahren einiges durchgestanden. Jetzt hofft der unbegleitete minderjährige Asylsuchende auf eine Lehrstelle hier und dass er eines Tages wieder in seine Heimat zurückkehren kann.
Andreas Hirsbrunner
In Niederdorf betreibt das Zentrum Erlenhof aus Reinach seit einem halben Jahr sein neustes Wohnheim für unbegleitete minderjährige Asylsuchende (UMA; siehe auch «Nachgefragt» unten). Im respektablen Haus unweit der Kirche leben derzeit 24 solche Jugendliche zwischen 16 und 18 Jahren, die meisten aus Afghanistan. Einer von ihnen ist Reza Ebrahimi, der mit seinen 17 Jahren schon so viele Widerwärtigkeiten erlebt hat, wie anderen im ganzen Leben nicht begegnen. In diesem Haus dürfte er damit eher die Regel als die Ausnahme sein.
Er erzählt der «Volksstimme» seine Lebensgeschichte der letzten Jahre in seiner ruhigen, gefassten und reflektierenden Art, nur ganz selten huscht ein Lächeln über sein ernstes Gesicht. Er macht das in einem erstaunlich guten Deutsch. Und wenn es nicht mehr weitergeht, behilft er sich mit Englisch, das er noch besser beherrscht.
Familie entscheidet sich für Türkei
Reza ist zusammen mit einem älteren Bruder und einer jüngeren Schwester in einer mittelständischen Familie in der afghanischen Hauptstadt Kabul aufgewachsen. Der Vater betrieb einen Stoffladen, die Mutter umsorgte die Kinder und den Haushalt. Als der Vater vor vier Jahren bei einem Sprengstoffanschlag auf die Moschee, in der er am Beten war, ums Leben kam, musste der damals 13-jährige Reza zusammen mit seinem Bruder den Stoffladen weiterführen. Und das neben der Schule.
Der nächste Schnitt im Familienleben folgte im August 2021, als die Taliban nach dem Abzug der Amerikaner die Macht in Afghanistan übernahmen. Zuerst habe der Laden ganz geschlossen werden müssen, da sich niemand mehr auf die Strasse getraute, blickt Reza zurück. Dann, als er wieder geöffnet werden konnte, sei der Umsatz um 85 bis 90 Prozent eingebrochen. Gleichzeitig sei alles von Tag zu Tag teurer geworden und die Familie habe kaum Geld fürs tägliche Überleben gehabt. Auch hätten sich seine Zukunftsperspektiven – er hätte gerne studiert, bevorzugt Politikwissenschaft oder Kinderarzt – in Luft aufgelöst.
«In dieser chaotischen Situation habe ich mich mit meiner Mutter und meinem Bruder besprochen. Ich wollte etwas ändern an meinem Leben», erzählt Reza. Das Fazit: Reza soll in die Türkei gehen. Dort sei es weniger gefährlich als in Afghanistan.
An eine legale Ausreise war nicht zu denken: Einen Pass konnte Reza nicht beschaffen und auch alle Botschaften, die ihm allenfalls ein Visum hätten ausstellen können, waren geschlossen. Ihm blieb nur die Flucht mit der Hilfe von Menschen-Schmugglern via Iran. Für die Finanzierung kam sein Onkel auf. Im benachbarten Iran wollte Reza nicht bleiben, weil das Regime sehr restriktiv sei und Flüchtlinge ohne Ausweispapiere wie ihn sofort zurückgeschoben hätten. In der Türkei sei sein Bewegungsradius klein gewesen. Dort arbeitete er werktags von frühmorgens bis am späteren Abend am Rande von Istanbul in einer Kleiderfabrik, in die Stadt habe er wegen der vielen Polizeikontrollen nicht gehen können. Die Stelle in der Fabrik verschaffte ihm ein ehemaliger Schulkollege seines Bruders, bei dem er auch wohnen konnte. «Das war sehr hart für mich. Ich war plötzlich ohne Familie, hatte eine langweilige Arbeit und war erschöpft.»
Von der Schweiz wusste er nichts
In jener Zeit wurde sein Bruder bei einem Raubüberfall in Afghanistan getötet, was für Reza die zuerst ins Auge gefasste Rückkehr in weite Ferne rücken liess. Nach vielen Telefongesprächen mit seiner Mutter sei für ihn klar geworden, dass er versuchen müsse, nach Westeuropa zu gelangen. «Dass es die Schweiz gibt, habe ich damals gar nicht gewusst, für mich standen Deutschland und Frankreich im Vordergrund.» Doch der Schulkollege seines Bruders habe ihm die Schweiz als Ziel empfohlen, weil es dort besser sei.
Zweimal versuchte Reza in der Folge, auf dem Landweg nach Griechenland zu gelangen, doch beide Male misslang der Grenzübertritt. Das eine Mal sei er danach von den türkischen Behörden während 36 Tagen in ein Lager gesteckt worden. Dort hätten ihn auch Leute von der afghanischen Botschaft in der Türkei besucht und ihm umgerechnet 100 Franken in Aussicht gestellt, wenn er ein Papier unterschreibt, dass er nach Afghanistan zurückgeht. Doch das war für ihn ausgeschlossen.
Also entschied er sich vor etwas mehr als einem Jahr für eine Flucht auf dem gefährlicheren Seeweg nach Süditalien, für die finanziell wiederum sein Onkel in Afghanistan aufkam. Die viertägige Überfahrt war für ihn traumatisch: «Wir waren 74 Personen auf einem etwa 15 Meter langen Boot und sassen eng zusammen. In einer Nacht gab es einen Sturm mit hohen Wellen, die Frauen und Kinder um mich herum schrien die ganze Zeit, und ich hatte als Nichtschwimmer ebenfalls Panik.»
In Süditalien kam er in ein Flüchtlingslager, aus dem er in einer Nacht zusammen mit zwei anderen Afghanen in einem achtstündigen Fussmarsch zum nächsten Bahnhof floh. Doch ohne Ausweis konnten sie keine Billetts kaufen und die Zugänge zu den Perrons waren bewacht. Dasselbe später auf einem Busbahnhof. Schliesslich besorgte ihnen ein Verwandter von einem der beiden Mitflüchtlinge, der in Belgien lebt, Onlinetickets und Reza gelangte per Bus via Mailand und Frankreich nach Basel. Das alles ohne Grenzkontrollen. In der Schweiz ging die Odyssee weiter: Vom Basler Bundesasylzentrum ins sanktgallische Pendant in Altstätten und wieder zurück in die Region Basel mit mehreren Stationen, so im Wohnheim Arlesheim, in der Asylunterkunft im Spital Laufen und während eines halben Jahres bei einer Pflegefamilie, was wegen Missverständnissen gescheitert sei. Schliesslich landete Reza vor vier Monaten im Wohnheim Niederdorf.
Sein grösster Wunsch: Frieden
Hier lebt er nun zusammen mit einem Somalier und einem Sudanesen in einem Wohntrakt. Wochentags besucht er das Brückenangebot in Muttenz, wo er auch einige Freunde gefunden hat. So vor allem einen Syrer, mit dem er am Wochenende manchmal klettern geht. Auch schwimmen geht er öfters – nicht zuletzt wegen seiner traumatischen Erinnerungen an seine Bootsflucht lernte er in der Schweiz schnell schwimmen. Und wie steht es mit dem Heimweh? «Ich vermisse meine Familie sehr und fühle mich manchmal einsam. Jeden zweiten Tag telefoniere ich mit meiner Mutter.»
Eine Rückkehr nach Afghanistan sei vielleicht in acht bis zehn Jahren möglich. Jetzt wolle er zuerst hier eine Lehre machen und dann seine Familie finanziell unterstützen. Im Vordergrund stehe eine Ausbildung in der Pflege. Befragt nach seinem grössten Wunsch, sagt Reza: «Ich sehe hier Leute aus fast der ganzen Welt, und sie alle sind wegen Kriegen hier. Ich wünsche mir nichts so sehr wie Frieden für alle.»