«Manchmal gibt es mehr, manchmal weniger»
24.12.2024 Bezirk LiestalDie Lebensmittelabgabe von «Tischlein deck dich» gibt es seit 15 Jahren
Mehr als 1,3 Millionen Menschen in der Schweiz sind laut Bundesamt für Statistik armutsgefährdet. Gleichzeitig wird hierzulande etwa ein Drittel aller Lebensmittel verschwendet. Wie man etwas ...
Die Lebensmittelabgabe von «Tischlein deck dich» gibt es seit 15 Jahren
Mehr als 1,3 Millionen Menschen in der Schweiz sind laut Bundesamt für Statistik armutsgefährdet. Gleichzeitig wird hierzulande etwa ein Drittel aller Lebensmittel verschwendet. Wie man etwas dagegen tun kann, zeigt ein Besuch bei der wöchentlich aufgebauten Abgabestelle in Liestal.
Brigitte Keller
Es ist der letzte Donnerstag vor Weihnachten, kurz vor acht Uhr. Der Pfarreisaal der katholischen Kirche in Liestal steht bereit, um als wöchentliche «Tischlein deck dich»-Abgabestelle zu dienen. Im vorderen abgetrennten Teil hat der Abwart Stühle aufgestellt für die Wartenden, im hinteren grossen Raum viele Tische. Und dort werden nun von einem zehnköpfigen Team rund um die beiden Leiterinnen Sibylle Obrecht und Daniela Rudin die angelieferten Lebensmittel vorbereitet.
Es sieht aus und hört sich an wie beim Aufbau eines Marktstandes. Die Ware wird von der Organisation «Tischlein deck dich» aus dem Verteilzentrum in Staufen (AG) angeliefert. Alle Helfenden wissen, was zu tun ist. Nach dem Hereintragen wird gesichtet, was alles dabei ist. Ab diesem Punkt unterscheidet sich dieser «Markt» von einem gewöhnlichen: Es wird genau gezählt, wie viel wovon vorhanden ist, dann sortiert und zu Produktbereichen, «Posten» genannt, zusammengestellt. Und zwar so, dass es bei jedem Posten für alle Wartenden genügend zur Auswahl hat. Zum Schluss wird mit einem Verteilschlüssel die Menge pro Familiengrösse bestimmt.
«Dieser Verteilschlüssel ist eine geniale Idee, auch für den oder die Letzte hat es so immer noch genug übrig.» Dies sagt Verena Lauener, eine der freiwilligen Helferinnen, die an diesem Morgen den «Brotposten» bedient. Die Kundinnen und Kunden bekommen bei der Erfassung am Eingang, nachdem sie die benötigte Berechtigungskarte vorgewiesen haben, ein entsprechendes Kärtchen, das Auskunft gibt, für wie viele Personen in ihrem Haushalt sie Ware beziehen dürfen. Und die Helfenden hinter den Tischen wissen damit, wie viele Produkte sie die Personen jeweils auswählen lassen können. Diesen Verteilschlüssel hat sich Sibylle Obrecht, eine der beiden Leiterinnen der Abgabestelle, ausgedacht. Er bietet den «Einkaufenden» und den Helfenden Sicherheit und Gewissheit. Ein ausgeklügeltes System sei das, diese Bezeichnung fällt mehr als einmal.
Was gibt es heute?
Welche Lebensmittel angeliefert werden, ist jedes Mal eine Überraschung. Viele Gemüsesorten und Früchte sind darunter, die im Laden nicht mehr verkauft werden könnten. Packungen mit buntem Blumenkohl fallen an diesem Morgen ins Auge. Und Rosenkohl. Ja, er steht auch hier nicht zuoberst in der Gunst der Wählenden.
Das Angebot an diesem Tag fällt üppiger aus als gewöhnlich, denn es hat auch Grundnahrungsmittel wie beispielsweise Reis, Teigwaren, Haferflocken und Zucker zur Auswahl. Diese begehrten und seltenen Produkte sind einer grossen privaten Spende extra für die Tage vor Weihnachten zu verdanken.
«Es hilft wirklich»
Die Stühle im Wartebereich füllen sich derweil stetig, je etwa hälftig mit Männern und Frauen jeden Alters. Sie alle haben eine Berechtigungskarte einer Sozialbehörde für diese «Tischlein deck dich»-Abgabestelle. Eine der Wartenden ist Tanja, eine junge Frau. Ihr Mann hat zwei Kinder, das Haushaltsbudget ist nach Abzug der Alimentenzahlung sehr knapp. Und da die zwei Kinder im Primarschulalter auch viel Zeit bei ihnen verbringen würden und verpflegt sein wollen, ist sie sehr froh über die Berechtigung, hier Lebensmittel beziehen zu dürfen. Die beiden Kinder wüssten, dass das Geld knapp sei. Sie verstünden es und sie seien auch schon mitgekommen zur Ausgabe. Ihre Nachbarin im Wartebereich ist Lorella, eine Mutter von zwei bald erwachsenen jungen Männern, «die recht viel essen können», wie sie sagt. Aus gesundheitlichen Gründen kann sie nicht mehr arbeiten und ist auf Sozialhilfe angewiesen. «Ich bin sehr froh, hier gibt es Sachen, die ich mir nie leisten könnte. Es hat eine schöne Auswahl und sie geben sich fest Mühe hier.»
Beide Frauen finden es gut und wichtig, dass man von dieser Möglichkeit Gebrauch macht. «Manchmal gibt es mehr, manchmal weniger, aber ich bin um alles froh. Und es wäre ja auch sehr schade, wenn das Essen weggeworfen würde», erklärt Tanja. Vis-à-vis von ihr sitzt eine IV-Empfängerin, die am Existenzminimum lebt. «Ich bin sehr froh, es hilft einem wirklich. Es gibt halt Umstände und plötzlich bist du in so einer Situation, und du fragst dich, wie weiter?» Sie habe keine Familienangehörigen, dafür zum Glück tolle Nachbarn, die sie zum kommenden Weihnachtsfest eingeladen hätten.
Fünf Berechtigungskarten von «Tischlein deck dich» kann auch Julia Vogel vom Sozialdienst der Pfarrei Bruder Klaus ausstellen. Diese seien sehr begehrt. Sie gibt sie nach gründlicher Prüfung nur an Personen ab, die bei ihr in der Sozialberatung sind. Dies können Personen sein, die gerade knapp kein Anrecht auf Sozialhilfe hätten und doch auch stark zu kämpfen haben.
Pünktlich um 9.15 Uhr werden die Kundinnen und Kunden in der Reihenfolge der gezogenen Losnummern eingelassen. Zügig gehen sie an den einzelnen Tischen und den dahinter postierten Helferinnen vorbei und wählen die Anzahl ihnen zustehender Lebensmittel aus. Niemand beschwert sich, niemand muss drängeln, alle sind dankbar für diesen Dienst. Nur selten wird ein angebotenes Lebensmittel abgelehnt. Alle, es sind 58 Personen an diesem Morgen, können nach dem Durchgang noch warten und schauen, was übrig bleibt. Dann wird gezählt, wie viele Personen noch gewartet haben, heute 25 an der Zahl, und alles übrig gebliebene in genau diese Anzahl «Portionen» aufgeteilt. So gibt es wiederum kein Drängeln und auch der letzte Rosenkohl findet noch einen Abnehmer.
Die karitative Foodsave-Organisation «Tischlein deck dich» gibt es seit 25 Jahren. Eine von aktuell 160 Abgabestellen ist seit genau 15 Jahren in Liestal mit aktuell einem Team von 23 Freiwilligen. Im Jahr 2023 wurden dort insgesamt 6700 Personen unterstützt und gleichzeitig 28 000 Kilogramm Lebensmittel vor der Vernichtung gerettet. Von Januar bis Juni befindet sich die Abgabestelle bei der reformierten Martinskirche, von Juli bis Dezember im Pfarreiheim der katholischen Kirche. Wer sich als freiwillige Helferin oder Helfer engagieren möchte, meldet sich bei einem der beiden Pfarrämter.