Der 1. August ist vorbei. Und man darf sich wieder fragen, was die überall erwähnten «Werte und Traditionen» eigentlich ausmacht. Nun, sie bergen die Wahrheit, weil in ihnen die Erfahrung von Generationen steckt. Sagen die einen.
Humbug, sagt Werbe-Alchemist und ...
Der 1. August ist vorbei. Und man darf sich wieder fragen, was die überall erwähnten «Werte und Traditionen» eigentlich ausmacht. Nun, sie bergen die Wahrheit, weil in ihnen die Erfahrung von Generationen steckt. Sagen die einen.
Humbug, sagt Werbe-Alchemist und Philosoph Roderick Sutherland. Traditionen und «Überzeugungen» wachsen aus Bequemlichkeit und Gewohnheit und überstimmen mit der Zeit jegliche Vernunft und sachlichen Argumente, so der Brite.
Sein Beispiel? Nehmen wir an, vor 100 Jahren hätten sich elektrische Fahrzeuge durchgesetzt und wir würden heute alle mit Strom betriebene Autos fahren, die wir zu Hause an die Steckdose anschlössen.
Nun käme ein smarter Ingenieur eines Autoherstellers und sagte, ich habe eine bessere Idee: Wir bauen Autos, die mit einer giftigen, hochbrennbaren Flüssigkeit angetrieben werden. Die führen wir in einem Tank direkt im Fahrzeug mit und bringen sie in einem Metallgehäuse vor oder unter uns permanent zur Explosion. Weil dieses System nur in ganz bestimmten Zuständen Leistung bringt, aber immer laufen muss, brauchen wir eine Kupplung und ein Getriebe, das wir mit Öl füllen müssen.
Die Anwender würden sofort nach den Vorteilen fragen: Kann man das Auto zu Hause aufladen? Nein, das geht nur an sogenannten Tankstellen. Ist es leiser? Im Gegenteil, es macht ziemlich viel Lärm. Ausserdem verbraucht es pro 100 Kilometer 60 Kilo Luft und bläst aus einem «Auspuff» 15 Kilo Kohlendioxid, 5 Kilo Wasserdampf und 40 Kilo Stickstoff in die Umgebung. Ist es einfacher und billiger herzustellen? Mitnichten: Es besteht aus 1000 beweglichen Teilen und ist sehr teuer in der Wartung.
Wie also könnte der Ingenieur potenzielle Käufer überzeugen? In unserer Welt fängt die Werbung hier an, die Fakten auszublenden und bringt «Emotionen» ins Spiel. Wie die Behauptung, dass Motorenlärm Musik in den Ohren sei.
Aber wer Sutherlands Beispiel durchdenkt, erkennt schnell, dass nach 100 Jahren Elektro-Auto-Tradition niemand, auch nicht die grössten Rennfahr-Enthusiasten, eine Leidenschaft für laute, dreckige, teure Fahrzeuge entwickelt hätte. Lärm und Gestank sind nicht Ursache der Begeisterung von Menschen «mit Benzin im Blut». Es sind vielmehr «Botenstoffe» für das eigentliche Faszinosum: für Beschleunigung und Geschwindigkeit. Hätten Autos 100 Jahre lang eine sanfte Melodie und einen Schweif Erdbeerduft hinter sich hergezogen, würden wir ob dem Lärm und Smog unseres derzeitigen Verkehrs nicht nur die Nase rümpfen, sondern sofort nach einem Verbot rufen.
Seit ich Sutherlands Beispiel gehört habe, frage ich mich, in wie vielen Dingen wir Menschen auf diese Weise fehlgeleitet sind: Was wir alles als «Tradition» oder «überlieferte Werte» hochhalten und jeder faktischen Prüfung entziehen. Und weil ich Ihnen den Spass an der Frage nicht nehmen will, nenne ich keine Beispiele. Ich sammle sie – für den kommenden 1. August.
Peter Sennhauser, Redaktor «Volksstimme»