Leben und Leiden im Zwischendeck
18.06.2024 Sissach, Kultur, SissachHeiner Oberer liest aus seinem Buch «Von Sissach nach Ohio»
Bereits vor einem halben Jahr ist «Von Sissach nach Ohio» erschienen, das Buch von Heiner über seine Ururgrossmutter Verena Oberer-Waibel. Sie ist 1858 aus sozialer Not nach Amerika ausgewandert. Bei ...
Heiner Oberer liest aus seinem Buch «Von Sissach nach Ohio»
Bereits vor einem halben Jahr ist «Von Sissach nach Ohio» erschienen, das Buch von Heiner über seine Ururgrossmutter Verena Oberer-Waibel. Sie ist 1858 aus sozialer Not nach Amerika ausgewandert. Bei einer Lesung im «Cheesmeyer» führte Autor Heiner Oberer seine Gäste über die ganze Skala von Emotionen.
Jürg Gohl
«Aber Vorsicht bei der Ahnenforschung», sagt Heiner Oberer und streckt den Zeigefinger in die Höhe, «es nimmt dir unweigerlich den Ärmel rein.» Er muss es wissen. Denn dass der frühere «Volksstimme»-Mitarbeiter, Kolumnist und Mundartspezialist in den Zeitungen über längere Zeit kaum mehr in Erscheinung trat, liegt hauptsächlich an seinen Vorfahren und an den erhaltenen Nachforschungen seines Vaters sowie am besagten Ärmel.
Sein Vater hat vor langer Zeit mit seinen Unterlagen zu seinen Ahnen, die auf dem Estrich lagerten, wertvolle Vorarbeit geleistet. Der Sohn konnte diese dank Internet entschieden vorantreiben. 3900 Namen trug er zusammen, viele mit dem Vornamen Eduard, dem zweiten Vornamen des Autors. Der Stammbaum wäre noch weit umfangreicher ausgefallen, hätten sich die Kirchenbücher, eine Hauptquelle der Ahnenforschung, beim Aufzeichnen nicht lange Zeit auf das männliche Geschlecht beschränkt.
«Uf das Ohio aabe»
Bei seiner Arbeit stiess Heiner Oberer auch auf die Geschichte seiner Ururgrossmutter Verena Oberer-Waibel. Sie ist 29 Jahre alt, verwitwet und Mutter von vier Kindern, als sie in der Not beschliesst, von Sissach nach Amerika auszuwandern. «Denn isch si uf das Ohio aabe», schildert Heiner Oberer mit unverkennbarer Liebe zu mundartlichen Formulierungen bei seiner Lesung im Dachstock des «Cheesmeyer». Ihr Leben lässt sich nur deshalb so detailliert schildern, weil ihr Briefwechsel mit ihrer Familie über drei Generationen erhalten blieb.
Angespornt durch den Historiker Matthias Manz, den früheren Baselbieter Staatsarchivar, liess sich Heiner Oberer dazu überreden, diese Lebensgeschichte, über die er bei seinen Forschungen gestolpert ist, zur Hauptsache zu machen. So entstand das Werk «Von Sissach nach Ohio» (Buchbesprechung in der «Volksstimme» vom 7. Dezember 2023). Die beiden Co-Autoren Matthias Manz und Robert Bösiger betten Oberers Biografie, die sich hauptsächlich am Briefwechsel von Verena Oberer orientiert, mit ihren Beiträgen vorgängig in ihren historischen Hintergrund ein.
Lacher und Betroffenheit
Dass Matthias Manz den Autor bei den Recherchen eng unterstützte und dabei immer auf Quellenangaben pochte, führt dazu, dass Heiner Oberer bei seiner Lesung seinen Mentor – natürlich versehentlich – als «Histeriker, äh, Historiker» bezeichnet. Es ist nicht der einzige Lacher an diesem Abend, den der Verfasser in seiner Doppelrolle als Moderator und Vorleser beim Publikum auslöst, um es darauf sogleich zum anderen Ende der Gefühlsskala zu führen.
Anhand von Dokumenten, in denen andere Auswanderer dieser Zeit ihre Schiffsreise ins Land der scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten schildern, zeichnet Oberer für sein Publikum nach, was Verena Oberer, ihre mitreisende eineinhalbjährige Tochter und andere Flüchtlinge im Zwischendeck des Segelfrachtschiffs 35 Tage lang erleiden mussten: Hunger, Dunkelheit, Krankheiten, Enge, Gestank, Lärm, fehlendes Wasser, fehlende Hygiene führt er als Stichworte an – «da waren seekranke Passagiere ein vergleichsweise kleines Problem. Unglaubliche Zustände».
Die Korrespondenz zwischen Verena Oberer, die sich in der Fremde Fanny nannte, mit ihrer Familie im Oberbaselbiet blieb über drei Generationen erhalten und stellt heute ein einzigartiges Zeitdokument dar. «Eigentlich handelt jeder Brief von den gleichen zwei Themen: Geld und Heimweh», sagt der Sissacher; und er zitiert seine Ururgrossmutter nochmals: «Es sind auch hier schlechte Zeiten. Und gleichwohl geht es mir besser als irgendeiner Frau in Sissach.»