Jerry
09.12.2025 PersönlichWer Katzen hat, hat Mäuse: Leider hat dieses alte chinesische Sprichwort keinen übertragenen, sondern einen wörtlichen Sinn. Als Kammerdiener zweier lebensfreudiger Käterchen habe ich ausserdem immer wieder Vögel (tot oder lebendig), Blindschleichen, Eidechsen (mit und ...
Wer Katzen hat, hat Mäuse: Leider hat dieses alte chinesische Sprichwort keinen übertragenen, sondern einen wörtlichen Sinn. Als Kammerdiener zweier lebensfreudiger Käterchen habe ich ausserdem immer wieder Vögel (tot oder lebendig), Blindschleichen, Eidechsen (mit und ohne Schwanz) oder einen Maulwurf im Haus. Das Einzige, was die beiden Serienkiller eisern ignorieren, sind die widerlichen Nosferatu-Spinnen, die sich immer wieder auf Augenhöhe am Badezimmerspiegel, meinem Frotteetuch oder auf dem Kopfkissen im Bett materialisieren, sobald ich das Licht in einem Raum einschalte – worauf es zehn Sekunden dauert, bis das Echo meines Schreis im Haus verhallt ist. Abgesehen davon finde ich aber fast alle unsere Gelegenheitsgäste ausgesprochen herzig. Und sofern möglich, versuche ich, sie vor den Katern zu retten.
Das war so vor gut drei Wochen, als Tiger Banksy morgens um halb drei in der Küche verliebte Avancen in Richtung des Recycling-Containers an den Tag oder in die Nacht legte. Wie vermutet, versteckte sich dahinter eine putzmuntere, frisch ins Haus gebrachte Maus mit allerliebsten Knopfaugen, die allerdings in mir nicht den Retter erkennen wollte, der ich zu sein plante. Nach zehn Minuten vergeblicher Einfangversuche wischte der unfreiwillige Einwanderer in allerbester Zeichentrickfilm-Manier wie ein driftendes Rennauto mit wild durchdrehenden Beinchen über die weissen Küchenfliesen an mir vorbei – schnurstracks ins Pfannen-Kabinett. Ich stellte also die Lebendfalle auf und ging zu Bett.
«Jerry» – es musste einfach «Jerry» sein – liess sich allerdings nicht mehr blicken. Tags darauf schickte mir meine Frau ein Video, das ihn zeigt, wie er im Arbeitszimmer unter dem Regal hervorlugt. Als er drei Tage später tot auf dem Teppich lag, waren wir gleichermassen traurig wie erleichtert.
Dann fanden wir heraus, wo er sich die zusätzliche Grösse angefressen hatte: In der Früchteschale in der Küche war jede einzelne Frucht von unten so angefressen, dass es von oben nicht zu sehen war.
Als wir allerdings weitere fünf Tage später in besagter Schale erneut angefressenes Obst fanden, wurde deutlich, dass unsere beiden Käterchen uns mit einer anderen toten Maus hatten weismachen wollen, die Aufgabe erledigt zu haben. Inzwischen ist uns «Jerry», weitere sieben Tage später, in die Falle gegangen, und ich habe ihn im Garten nahe Kompost in die Freiheit entlassen. Sein fein säuberlich zusammengerafftes Nest aus PET-Taschen-Streifen ist mir vorgestern aus der untersten Küchenschublade vor die Füsse gefallen. Er hatte sich offenbar auf mehr als zwei Wochen Urlaub bei uns eingerichtet.
Woher ich weiss, dass «Jerry» männlich war? Ich weiss es nicht – ich hoffe es. Denn bei einer Tragezeit von 20 Tagen hätte «Jenny» gut und gerne auch bereits Nachwuchs mit Geburtsrecht ins Haus gebracht haben können.
Peter Sennhauser, Redaktor «Volksstimme»

