Für das Impfen, aber gegen Impfzwang
10.11.2023 BaselbietDer Infektiologe Prof. Philip Tarr vom Bruderholzspital zur aktuellen Corona-Situation
Zu Beginn der kalten Jahreszeit steigt das Risiko der Ansteckung mit Atemwegsinfektionen wie Corona. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) hat deshalb für diesen November eine Kampagne ...
Der Infektiologe Prof. Philip Tarr vom Bruderholzspital zur aktuellen Corona-Situation
Zu Beginn der kalten Jahreszeit steigt das Risiko der Ansteckung mit Atemwegsinfektionen wie Corona. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) hat deshalb für diesen November eine Kampagne lanciert, die risikobehaftete Menschen zu einer Impfung gegen Covid-19 aufruft.
Andreas Bitterlin
Herr Tarr, wie gefährlich ist Corona zurzeit?
Philip Tarr: Corona kann heute in etwa beurteilt werden wie eine Grippe und präsentiert sich deutlich anders als noch vor zwei Jahren. Unsere Bevölkerung besitzt heute eine wesentlich höhere Grundimmunität, da die Menschen seither entweder mit Covid-19 infiziert waren oder geimpft sind – wenn nicht sogar beides zutrifft. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich Corona wieder in einem schweren Verlauf entwickeln wird, ist sehr unwahrscheinlich.
Zurzeit läuft eine Kampagne des BAG, das die Covid-19-Impfung für über 65-Jährige und gefährdete Personen empfiehlt. Wer fällt unter diese Kategorie?
Über 65-Jährige haben den weitaus grössten Risikofaktor, das Spital wegen einer Covid-Erkrankung aufsuchen zu müssen. Gemäss Definition der Behörden gelten zusätzlich Menschen mit chronischen Herz-, Lungen-, Leber- und Nierenerkrankungen als besonders gefährdet. Auch Diabetes ist ein Kriterium. Viele ins Alter Gekommene sind von Diabetes betroffen und sollten unbedingt abklären, ob sie zur Risikogruppe gehören.
Ist gemäss Empfehlung des BAG das Impfen bei jungen Menschen überflüssig?
So radikal urteilt das Bundesamt für Gesundheit nicht. Jeder Mensch soll individuell die Nutzen und Risiken dieser Impfung abwägen können.
Würden Sie gesunde junge Menschen aktiv zum Impfen animieren?
Nein. Wenn allerdings jemand mit der Covid-Impfung sein oder ihr Ansteckungsrisiko für die darauffolgenden circa drei Monate deutlich senken will, dann darf er oder sie selbstverständlich impfen. Die Kosten werden allerdings nur übernommen, wenn jemand wegen Alter oder anderen Erkrankungen als «besonders gefährdet» gilt.
Wie stehen Sie zu einer behördlichen Verordnung von Impf- oder Maskenpflicht?
Wer sich und andere individuell besonders gut schützen möchte oder immungeschwächt ist oder das Maskentragen ethisch wie im asiatischen Raum sehr hoch bewertet als Schutz der anderen vor meinen Viren beim Husten und Niesen, darf und soll eine Maske tragen. Zusätzlich schützen sie sich mit der Maske nicht nur gegen Covid, sondern auch vor anderen Viren. Aber wir haben bei der Pandemie die Erfahrung gemacht, dass Druck Gegendruck erzeugt und Aggressionen auslösen kann. Ich denke, eine Maskentrag- oder Impfpflicht würde das Vertrauen in die Behörden wieder senken. Das will das BAG sicher nicht.
Gibt es im Bruderholzspital eine Maskenpflicht?
Zurzeit herrscht bei uns keine Maskenpflicht. Das kann sich jedoch jederzeit ändern, wenn Personal durch Krankheiten ausfällt, Patientinnen und Patienten sich gegenseitig anstecken und allgemein die Last der Erkältungsviren zu hoch wird. Wir müssen jeweils die epidemiologische Lage prüfen und aufgrund dessen den Sachverhalt bestimmen.
Wie oft kommt Corona bei Patientinnen und Patienten in Ihrem Spital vor?
Wir behandeln etwa alle zwei bis drei Monate Covid-Patientinnen und -Patienten auf der Intensivstation. Dabei handelt es sich aber nicht um Ernstfälle, bei denen beispielsweise Beatmungsmaschinen eingesetzt werden müssen. Sie suchen uns wegen geschwächter Lungen auf und benötigen mehr Sauerstoff, der mit etwas Druck verabreicht werden muss. Auf einer normalen Station ist das nicht möglich. Dass Patientinnen und Patienten wochenlang auf der Intensivstation liegen, teils sogar im Koma, ist nicht der Fall.
Haben Sie Vorkehrungen für den Fall einer neuen Pandemie getroffen?
Ja. Beispielsweise haben wir uns mit genügend Masken eingedeckt, damit wir nicht wie 2021 vor einem leeren Lager stehen. Es werden übrigens mehr benötigt, da wir nun bereits die Mundschutze auf der Notfallstation einsetzen, wenn Symptome wie Husten und Schnupfen festgestellt werden.
Gibt es signifikante Fortschritte bei den Medikamenten im Kampf gegen Covid?
Nicht revolutionäre, aber wir können jetzt zwei wirksame antivirale Medikamente einsetzen: Neben dem seit 2020 bekannten Remdesivir neu auch das Paxlovid. Wunder bewirken diese antiviralen Mittel allerdings nicht. Diese Medikamente werden aber nur bei schweren Krankheitsverläufen eingesetzt.
Werden weiterhin neue Varianten von Coronaviren entstehen?
Ja, neue Mutationen werden auftauchen. In den vergangenen anderthalb Jahren ist aber keine neue aggressive Variante entstanden, die uns besonders grosse Sorge bereitet. Seit dem Auftauchen von Omikron im Herbst 2021, die wesentlich weniger aggressiv ist als etwa die Delta-Variante, hat sich die Situation entspannt.
Es gibt Long-Covid-Patienten, die aus Verzweiflung über lang anhaltende Komplikationen als Therapie eine Blutwäsche wählen für Preise von mehreren Tausend Franken. Dies auf eigene Kosten, da die Krankenkassen diese Therapie nicht vergüten. Wie stehen Sie dazu?
Mir sind keine wissenschaftlichen Daten über die Wirkung dieser Massnahme bei Corona oder bei Long-Covid-Folgen bekannt.
Wie funktioniert diese Blutwäsche?
Es handelt sich dabei um eine sogenannte Apherese, bei der Blut entnommen wird und mittels biochemischer Methoden Antikörper und andere Substanzen aufgesaugt werden. Das Blut wird so gereinigt und wieder in den Körper zurückgeführt. Dieses Vorgehen ist tatsächlich sehr teuer, und eine einzige Behandlung genügt nicht. Sie wird mehrfach wiederholt.
Wieso übernehmen die Krankenkassen die Kosten nicht?
Die Krankenkassen bezahlen gemäss den geltenden Kriterien dann, wenn eine Therapie zweckmässig, wirksam und wirtschaftlich ist. Es gibt aber keine Daten, die belegen, dass diese Kriterien bei dieser Anwendung der Blutwäsche erfüllt sind.
Zur Person
anb. Philip Tarr (55) ist Co-Chefarzt Innere Medizin und Leiter Infektiologie an der Medizinischen Universitätsklinik des Kantonsspitals Baselland. Er ist im Kleinbasel aufgewachsen und hat in Zürich Medizin studiert. Er ist verheiratet, hat zwei Töchter und wohnt in Arlesheim. In der Freizeit ist er als Pauker und Perkussionist regelmässig mit dem Barockorchester La Cetra Basel und anderen Gruppierungen zu hören.