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30.01.2024 Sissach, Politik, Gesellschaft, SissachDiskussion um Narzissmus und Armut im «Cheesmeyer»
Verwirklicht sich die «Selbstliebe» stets auf Kosten von anderen?
Über diese Kernfrage diskutierte Ueli Mäder im «Cheesmeyer» mit der Basler Sängerin Claudia Adrario de Roche und der ...
Diskussion um Narzissmus und Armut im «Cheesmeyer»
Verwirklicht sich die «Selbstliebe» stets auf Kosten von anderen?
Über diese Kernfrage diskutierte Ueli Mäder im «Cheesmeyer» mit der Basler Sängerin Claudia Adrario de Roche und der Zürcher Psychoanalytikerin Jeannette Fischer.
Peter C. Müller
«Der Ausdruck Narzissmus», erklärte Soziologe Ueli Mäder gleich zu Beginn der Veranstaltung «Narzissmus und (Ohn-)Macht», «steht alltagspsychologisch für die Selbstverliebtheit oder die Selbstbewunderung eines Menschen, der sich für wertvoller oder wichtiger einschätzt, als Beobachtende dies tun würden.» In der Umgangssprache werde eine stark auf sich selbst bezogene Person, die anderen eine weit geringere Beachtung als sich selbst schenke, als «Narzisst» bezeichnet. Ein derartiger Gebrauch des Wortes «Narzissmus» schliesse meist ein negatives moralisches Werturteil über die betreffende Person ein.
Der Begriff Narzissmus stehe dabei in Verbindung mit einer Vielzahl sehr unterschiedlicher psychologischer, sozialwissenschaftlicher oder philosophischer Konzepte. Was genau mit «Narzissmus» gemeint ist, hänge dann jeweils vom betreffenden Kontext ab.
Mäder diskutierte am Donnerstag im «Cheesmeyer» mit Claudia Adrario de Roche und Jeannette Fischer. Adrario de Roche setzt sich im «Soup & Chill» in Basel als Vereinspräsidentin für bedürftige Menschen ein und war auch schon als Opernsängerin tätig. Jeanette Fischer arbeitet als Psychoanalytikerin und ist Autorin von Büchern wie «Was ich begehre, ist bei mir!»
Jeanette Fischer fragte: «Warum hat Narziss nur noch sich selbst als Gegenüber? Warum kommt ihm die (Um-)Welt abhanden?» Sie beleuchtete nicht nur die persönlichen narzisstischen Beziehungsmuster, sondern auch deren Ausdrucksformen in der Gesellschaft und im politischwirtschaftlichen Handeln.
Narziss, der schöne Jüngling in der griechischen Mythologie, liebte nur sich selbst. Sein Ego und seine Eitelkeit hinderten ihn daran, eine andere Person mehr als sich selbst zu lieben. «Er war ein eigentlicher Rebell, ein 16-Jähriger, der nur noch sich selbst als Gegenüber hatte», fasste es Fischer im «Cheesmeyer» zusammen. Wenn man dabei Narzissten stigmatisiere, gehe man schnell einmal am eigentlichen Problem vorbei, so die Psychoanalytikerin. Am Ende gehe es um die Frage: Warum wollen wir uns nicht mehr binden?
Claudia Adrario de Roche kommen beim Stichwort «Narziss» vor allem die wunderschönen Blumen in den Sinn, wie sie sagte. Sie seien ein grosses Wunder und ein Symbol der Stärke, da sie dem Schnee trotzten. Eine Aussage, der der emeritierte Botanikprofessor Christian Körner, der an diesem Abend ebenfalls anwesend war, nur zustimmen konnte.
Adrario de Roches Alltag ist geprägt von der Mitarbeit in der «Wärmestube» beim Basler Bahnhof SBB. Sie erzählte deshalb praxisnah und eindrucksvoll von ihren Klientinnen und Klienten, die sie nicht gerne als «Randständige», sondern viel lieber und passender als «Leute ohne eigenes Wohnzimmer» bezeichnet haben möchte. «Wir möchten auch zeigen: Euch mag es momentan vielleicht schlecht gehen», sagte sie, «aber ihr seid nicht schlecht. Ihr seid etwas wert und ihr könnt auch etwas.» Sie gebe den Menschen wieder etwas Boden unter die Füsse, die ersten Schritte müssten sie dann selber tun. «Es geht mir darum, die Bedürftigen zu ermutigen, zu stärken und zu unterstützen.»
Narzissten in der Politik
Es folgte ein allgemeines Nachdenken über individuelle Bedürfnisse, Strukturen oder Mechanismen. Zur Sprache kommen aber auch Narzissten in der Politik wie Donald Trump, Viktor Orban oder Wladimir Putin und deren Hang zur Selbstinszenierung. Von Ueli Mäder und aus dem Publikum gab es immer wieder Fragen, Anregungen oder Denkanstösse: Wo ist die Macht oder Ohnmacht in den Sozialen Medien? Wie geht man in Beziehungen mit narzisstischen Zügen um? Kann ein Narzisst depressiv sein? Oder: Gibt es sichere Beziehungen?
So unterschiedlich die beiden Frauen auf dem Podium in ihrer Arbeit, Lebensauffassung oder Alltagsmotivation auch sein mochten, so gab es an diesem Abend auch Gemeinsamkeiten. Ein geistiges Umarmen und ein physisches Händereichen zum Ende der Veranstaltung. «Du machst in der Praxis das, worüber ich schreibe», meinte Fischer zu Adrario de Roche: Ein passenderes Schlusswort hätte es nach der anderthalbstündigen Debatte nicht geben können.