Hexenjagd nach der Reise in die Sowjetunion
14.11.2024 Bezirk LiestalEine Sonderausstellung und eine neue Publikation zum 25. Todestag von Helene Bossert (Teil 3/3)
Das «Distl – Dichter:innen- und Stadtmuseum Liestal» widmet der Baselbieter Schriftstellerin Helene Bossert (1907–1999) anlässlich ihres 25. Todestags eine ...
Eine Sonderausstellung und eine neue Publikation zum 25. Todestag von Helene Bossert (Teil 3/3)
Das «Distl – Dichter:innen- und Stadtmuseum Liestal» widmet der Baselbieter Schriftstellerin Helene Bossert (1907–1999) anlässlich ihres 25. Todestags eine Ausstellung. Zugleich ist eine neue Publikation auf der Grundlage von Bosserts Nachlass erschienen. Dritter und letzter Teil unserer Serie.
Rea Köppel
Zum Abschluss der dreiteiligen Serie über die Baselbieter Mundartdichterin Helene Bossert (1907–1999) sollen die Auswirkungen der Reise in die Sowjetunion mit der «Schweizer Frauenvereinigung für Frieden und Fortschritt», von der im zweiten Teil berichtet wurde, zusammengefasst werden. Detaillierter dargestellt und mit Dokumenten aus dem Nachlass belegt sind sie in der neuen Ausstellung «Helene Bossert – Heimatdichtung und Hexenjagd» sowie der gleichnamigen Publikation, die im Verlag Baselland erschienen ist.
Die Medienkampagne
Die erste Zeitungsnotiz über die Abreise der Schweizerinnen findet sich am 5. September 1953 im kommunistischen Blatt «Vorwärts», das alle Kontakte mit der Sowjetunion feierte. Der Baselbieter Landrat Werner Bitterlin (Sozialdemokratische Partei) las den Artikel und sandte eine Notiz an die «Volksstimme», die am 11. September, also noch während der Reise, anonym publiziert wurde und Helene Bossert namentlich identifizierte. Bitterlins Motivation scheint gewesen zu sein, eine heimliche Kommunistin an ihrem Wohnort zu enttarnen. Die Vorstellung, dass sowjetische Spione die Gesellschaft unterlaufen hätten und aufgespürt werden müssten, führte ja nicht nur in diesem Fall dazu, dass sich aufgehetzte Bürgerinnen und Bürger gegen eine oder einen der Ihren wandten. Ein Extrembeispiel ist der Fall Konrad Farner, der 1956 in Thalwil von einem Mob terrorisiert wurde, nachdem die «Neue Zürcher Zeitung» seine Adresse publik gemacht hatte; Farner war allerdings im Gegensatz zu Bossert tatsächlich ein Kommunist.
Bitterlins Artikel brachte die lokale Gerüchteküche zum Überkochen. Bereits bei ihrer Ankunft auf dem Sissacher Bahnhof wurde Helene Bossert von einem Nachbarn, den sie freundlich gegrüsst hatte, geschnitten. In den nächsten Tagen wurde ihr überall die kalte Schulter gezeigt. Dass sie die Situation anfangs noch nicht ganz ernst nahm, zeigt ein zwei Wochen nach der Reise verfasster Brief. Die Redaktion der «Volksstimme» hatte sie zu einer Antwort auf die Vorwürfe aufgefordert, sie meinte jedoch: «Nun, ich sagte dem Redaktor der ‹Volksstimme› telefonisch: Ich werde diesem Herrn Bitterlin Antwort geben. Es lange mir bloss nicht auf den Freitag, da ich Wäsche hätte.»
Zu diesem Zeitpunkt hatte sie sich wohl nicht vorgestellt, dass sie noch 1956 konstatieren müsste: «Zwei Jahre und etwas drüber sitze ich nun auf der Armsünderbank und bin mir einfach keiner Sünde bewusst.» Doch als sie ihre Antwort eingesandt hatte – sie berief sich auf ihren Wunsch, als Dichterin die Welt zu sehen und die sowjetischen Menschen vorurteilsfrei kennenzulernen – muss ihr die Schwere der Lage bewusst geworden sein. Die «Volksstimme» druckte ihren Brief nur eingebettet in eine vernichtende Kritik der Redaktion und begleitet von einem angriffigen «Offenen Brief» Bitterlins ab. Dieser erklärte, wenn Bossert nicht vor Ort die Verbrechen des Sowjetregimes angeklagt hätte, liege ihre geistige Heimat nicht mehr in der Schweiz.
Auswirkungen der Hetze
Der Fall wurde in allen regionalen Zeitungen aufgegriffen. In Bosserts Nachlass findet sich eine Vielzahl von Zeitungsausschnitten, die sich in Verdächtigungen und strafenden Worten überbieten. Eine gemässigtere Einschätzung bot einzig der «Landschäftler», dessen Redaktor Alfred Kundert sich zu einer persönlichen Aussprache bereit erklärte. Das kommunistische Blatt «Vorwärts» wiederum trug mit seiner propagandistisch überzeichneten Verteidigung Bosserts von linker Seite her auch nicht zur Beruhigung der Lage bei.
Dass die mediale und persönliche Hetze gegen Helene Bossert schlimmer ausfiel als gegen ihre elf Mitreisenden, hat verschiedene Gründe. Zunächst stand sie als Heimatdichterin nicht nur stärker in der Öffentlichkeit als diese, sondern wurde auch als Bewahrerin des Herkömmlichen betrachtet, wozu die Verstrickung in die Weltpolitik nicht passte. Dann war sie auf dem Land, wo es kaum tatsächliche Kommunistinnen und Kommunisten gab, viel exponierter als die anderen Frauen, die sich teils aktiv für den Kommunismus starkmachten, aber eben in Basel oder Zürich. Und schliesslich kam sie als Frau wohl auch stärker unter die Räder als mancher Arbeiter, der mit dem Kommunismus liebäugelte, weil ihre selbstbewusste Art und die Weigerung, sich zu entschuldigen, dem herrschenden Frauenbild widersprachen.
Umso besser passte die Rolle der Hexe auf sie – noch heute finden sich vereinzelt Sissacherinnen und Sissacher, die als Kind Bosserts Wohnhaus als unheimliches Hexenhaus fürchteten.
Die Familie der Dichterin wurde quasi in Sippenhaft genommen und hatte massiv unter den Auswirkungen ihrer Reise zu leiden. Ihr Sohn Johann Ulrich (Hansueli), damals erst achtjährig, kam etwa weinend aus der Schule nach Hause, weil ihm Kameraden erzählt hatten, seine Mutter sei in Russland an einen Baum gebunden worden und hätte Schweizer Staatsgeheimnisse wie die Munitionsvorräte verraten müssen. Die Familie zog sich jahrelang ins Private zurück und überlebte zwischen bösartigen Gerüchten und Anwürfen in einer Art sozialem Feindesland. Dass Bosserts Nachlass erst jetzt im Staatsarchiv zugänglich ist, ist auch darauf zurückzuführen, dass ihr Sohn, durch die Vorgänge traumatisiert, lange Zeit nichts mit dem Kanton Baselland zu tun haben wollte. Und falls Bosserts Mitbürgerinnen und Mitbürger sie so von ihrem verdächtig linken Pazifismus abbringen wollten, ging der Schuss nach hinten los: Da die Einzigen, die sie in diesen schweren Jahren unterstützten, linke bis kommunistische Organisationen und Bekannte waren, rückte sie aus reinem Selbstschutz erstmals eindeutig ins politisch linke Spektrum, ohne jedoch ihre christliche Grundhaltung aufzugeben.
Der Staatsschutz in Aktion
Aber nicht nur das tägliche Mobbing lief nach Bosserts Rückkehr auf Hochtouren. Sie geriet auch ins Visier der Bundesanwaltschaft, die bereits früher aufgrund der gewerkschaftlichen Aktivitäten ihres Ehemanns ihre Entlassung beim Radiostudio Basel verlangt hatte. Diesmal hatten die Staatsschützer Erfolg: Bossert wurde entlassen, ausdrücklich unter Verweis auf ihre Reise.
In der Folge wuchs die «Fiche» der Dichterin unaufhörlich an. Liest man die darin enthaltenen, von der Bundesanwaltschaft und der Polizei Basel-Landschaft erstellten Dokumente, fällt vor allem eines auf: Wie die Verdächtigungen ein ums andere Mal widerlegt werden und doch eisern an der Behauptung festgehalten wird, sie müsse eine Krypto-Kommunistin sein. Da wurden mitgehörte Telefongespräche von Mitgliedern der Partei der Arbeit, in denen Bosserts Fall erwähnt wird, in ihre «Fiche» abgelegt, obwohl sie wohl kaum etwas davon wusste.
Als die Sowjetische Botschaft in Bern alle Delegierten der verhängnisvollen Reise zu einem Empfang einlud, informierte die Bundesanwaltschaft die Baselbieter Polizei und diese stellte zwei Polizisten dazu ab, Bosserts Haus den ganzen Nachmittag zu überwachen. Sie konnten jedoch nur berichten, dass das Ehepaar Fausch-Bossert mit Garten- und Hausarbeiten beschäftigt gewesen sei und offenbar nicht an dem Empfang teilgenommen habe. Ein Inspektor der Bundesanwaltschaft wiederum rief unter einem Vorwand bei der Dichterin an und versuchte, sie über ihre politische Gesinnung auszuhorchen.
Dass sie sich über ihre öffentliche Ächtung als vermeintliche Kommunistin beklagte und eine neutrale politische Haltung beibehielt, war für ihn die Bestätigung dafür, dass hier ganz sicher etwas im Argen liege. Und schliesslich intervenierte die Bundesanwaltschaft sogar, wenn Bossert für Lesungen engagiert wurde: Sie sprach ein ernstes Wort mit den Zuständigen und liess sich zusichern, dass eine solche Einladung nicht mehr vorkommen werde.
Damit und mit der Entlassung beim Radiostudio bewirkte diese ein faktisches Auftritts- und Publikationsverbot, unter dem Bossert als Dichterin stark litt, und entzog ihrer Familie einen Teil ihrer materiellen Existenzgrundlage.
Unvollständige Rehabilitierung
Die politische Debatte über Helene Bosserts öffentliche Ächtung begann bereits ein Jahr nach ihrer Reise: In einer Interpellation verlangte Paul Manz (Freie Politische Vereinigung), die Baselbieter Regierung solle sich bei der Verwaltung des Radiostudios Basel für die Wiedereinstellung der Dichterin starkmachen. Obwohl die Interpellation angenommen wurde, änderte sich für Bossert dadurch nichts. Erst 1956 nahm der Verwaltungsrat des Radiostudios Basel auf ihre eigene Anfrage hin seinen Entscheid zurück und Bossert erhielt wieder Aufträge, freilich zunächst nur wenige und künstlerisch kaum bedeutsame.
Doch langsam, im Zeichen der zunehmenden Entspannung zwischen den Blöcken des Kalten Kriegs und der gesellschaftlichen Umwälzungen, welche die 68er-Bewegung anstiess, setzte sich die Erkenntnis durch, dass man in Sachen Helene Bossert vielleicht doch übers Ziel hinausgeschossen hatte. 1970 beschloss die Kantonale Literaturkommission, Bossert als informelle Wiedergutmachung einen Erzählband zu finanzieren, der 1973 unter dem Titel «Änedra» erschien. 1988 schliesslich erhielt die Dichterin den Literaturpreis des Kantons Basel-Landschaft. Diese Ehrung war eine grosse Genugtuung für Bossert, ändert aber nichts daran, dass sie bis heute politisch nicht vollständig rehabilitiert ist.
Eine zweite Debatte im Landrat entspann sich nach Bosserts Tod 1999 um eine Interpellation von Peter Brunner (Schweizer Demokraten). Sein Anliegen, eine öffentliche Wiedergutmachung zu prüfen, wurde zurückgezogen, nachdem die Regierung auf den grossen Aufwand eines derartigen Vorhabens hingewiesen hatte. Und auch eine 2021 von Linard Candreia (SP) lancierte dritte Interpellation wurde abgewiesen. In einer langen, primär juristischen Begründung erklärt sich die Kantonsregierung darin für nicht zuständig – was für alle, welche die Zusammenarbeit zwischen Bundesanwaltschaft und Kanton etwa bei Bosserts polizeilicher Überwachung kennen, schwer nachvollziehbar ist.
Helene Bossert verstarb 1999 im Altersheim Jakobushaus in Thürnen. Doch wie ihr Leben von der verhängnisvollen Reise in die Sowjetunion aus der Bahn geworfen wurde, ohne dass sie die Hoffnung verlor, so ist die Geschichte ihrer Rehabilitierung bei allen ablehnenden Entscheiden noch nicht fertig geschrieben. Es wäre allerdings eine verpasste Gelegenheit, wenn sie ihren Abschluss nicht noch zu Lebzeiten von Bosserts mittlerweile 79-jährigem Sohn finden würde, der als Knabe seine Mutter als Landesverräterin verunglimpft sah und bis heute auf eine offizielle Richtigstellung dieses Befunds wartet.
Rea Köppel, die Autorin dieses Beitrags, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des «Distl – Dichter:innen- und Stadtmuseum Liestal» und Mitherausgeberin der Publikation «Helene Bossert – Heimatdichtung und Hexenjagd». Teil 1 unserer dreiteiligen Serie ist am 7. November erschienen, Teil 2 folgte am 8. November.
Ausstellung und neue Publikation
vs. Sonderausstellung «Helene Bossert – Heimatdichtung und Hexenjagd» im «Distl – Dichter:innen- und Stadtmuseum Liestal». Dauer der Ausstellung: Seit 9. November 2024 bis zum 17. August 2025. Öffnungszeiten: Dienstag bis Freitag 10 bis 18 Uhr, Samstag 9 bis 16 Uhr, Sonntag 10 bis 15 Uhr (Montag geschlossen).
Die Publikation «Helene Bossert – Heimatdichtung und Hexenjagd», herausgegeben von Stefan Hess und Rea Köppel, erscheint im Verlag Baselland und ist im Distl, beim Verlag Baselland oder im Buchhandel erhältlich.