Gute Nacht oder «Bonne nuit»?
19.09.2025 PersönlichFrühfranzösisch sorgt derzeit für einige Aufregung. Der Kanton Zürich wird es von der Stundentafel der Primarstufe streichen. Die Welschen samt Bundesrätin sehen einen politischen Affront, und Bildungsfachleute beurteilen den Entscheid als unklug.
Im Lauf meines ...
Frühfranzösisch sorgt derzeit für einige Aufregung. Der Kanton Zürich wird es von der Stundentafel der Primarstufe streichen. Die Welschen samt Bundesrätin sehen einen politischen Affront, und Bildungsfachleute beurteilen den Entscheid als unklug.
Im Lauf meines Erwachsenenlebens musste ich diverse meiner jugendlichen Ansichten durch Erfahrung und Arbeit revidieren. Anfang der Achtzigerjahre habe ich als junger Primarlehrer gewirkt. Später, während des Theologiestudiums, unterrichtete ich Deutsch für Fremdsprachige.
Damals ging es darum, ob Französisch bereits in der Primar gelehrt werden soll. Jüngere Kinder lernen bekanntlich leicht Sprachen. Auch ich habe diese Initiative sehr begrüsst. Zuerst kam dann Französisch als erste Fremdsprache in die fünfte Klasse, später mit Harmos (und der Einführung auch von Englisch) gar in die dritte Klasse. Man versprach sich und uns ein kommunikatives Sprachbad, in das die Kleinen für zwei Wochenlektionen gesetzt würden, mit Spiel und Spass und vielen Liedern.
Meines Wissens sind lustvolle Sprachbäder nur in wenigen Schulzimmern Realität geworden, es blieb eher ein Wurf ins kalte Wasser statt ein Baden im «Hot Pot». Für ein funktionierendes Sprachbad bräuchte es viel mehr Zeit und Musse: Lehrpersonen (und Eltern) müssten die Sprache selbst beherrschen und mögen – und mitbaden können und wollen. Das bleibt illusorisch. Von Sprachbad reden lässt sich erst nach einem längerem Schüleraustausch oder einem Welschlandjahr wie anno dazumal.
Ich denke, nicht die Kinder sind überfordert, sondern die Lehrpersonen, weil ihnen das überfrachtete Bildungssystem zu viel abfordert. Sie unterrichten inzwischen «Alles e bitzeli, aber nüt meh rächt!» Die Welt dreht sich und Rahmenbedingungen ändern sich. Schulklassen sind diverser. Möglichkeiten und Bedürfnisse der Kinder sowie Ansprüche an deren Bildung sind anders als vor 30 Jahren. Inklusion sowie auch Informatik und neu KI haben zusätzliche Herausforderungen und Chancen geschaffen. Die öffentliche Schule leistet unfreiwillig oft Erziehungs- und Integrationsaufgaben, die von Eltern nicht mehr erbracht werden.
Aus vielen Schulhäusern und der Kindermedizin ist längst bekannt, dass die Ansprüche (und Lehrpläne) der Erwachsenenwelt sowohl Unterrichtende, Eltern und Kinder immer wieder und vereinzelt überfordern. Ich habe das selbst als Vater und neu als Privatschulinitiant erfahren und beobachtet.
Weniger ist oft mehr. Besser weniger Fächer und Lernstoff in Stundentafeln füllen, und diese ausführlich und kompetent unterrichten. Damit Schulabgehende dereinst deutsche Texte und Kolumnen wie diese lesen und verstehen können. Was mich heute ärgert, ist die umgehende Politisierung in unserer helvetischen «Viersprachen-Willensnation». Als ob der «Röstigraben» tiefer würde, wenn das Französisch bei uns wieder in die Sekundarschule zurückginge. Ich habe in Graubünden gelebt. Dort ist Französisch als Frühfremdsprache kein Thema. An seiner Stelle steht Italienisch.
Matthias Plattner wurde 1962 geboren und ist Pfarrer der Reformierten Kirchgemeinde Sissach-Wintersingen.