Goldene Jahreszeit und Prämienherbst
14.11.2025 PersönlichVorbemerkung und Hand aufs Herz: die medizinischen und pharmazeutischen Fortschritte der letzten vierzig Jahre sind grossartig. Unsere betagten Eltern oder manche Freundin oder Bekannte würden nicht mehr leben oder wären völlig immobil. Berufsleute in Spitälern, Pflege, Praxen ...
Vorbemerkung und Hand aufs Herz: die medizinischen und pharmazeutischen Fortschritte der letzten vierzig Jahre sind grossartig. Unsere betagten Eltern oder manche Freundin oder Bekannte würden nicht mehr leben oder wären völlig immobil. Berufsleute in Spitälern, Pflege, Praxen machen in vielen Institutionen einen super Job. Und das will keine und keiner von uns missen, falls es weh oder not tut – und auch, wenn es teuer wird.
Als Schweizer Bürger vertraue ich unserem Bundesrat, ausser es geht um Militärflieger. Seine Empfehlungen sind bedenkenswert und ich setze sie in der Regel um. Alle Jahre wieder anfangs Herbst werden wir aus dem Bundeshaus und vom BVG freundeidgenössisch angehalten, die steigenden Krankenkassenprämien zur Kenntnis zu nehmen, zu schlucken und die Faust im Sack zu machen – oder besser, man empfiehlt uns: zu vergleichen und den Anbieter zu wechseln.
Ich mache das seit fünfundzwanzig Jahren. Bei mir gehört dieses Prüf-Intermezzo inzwischen zum traditionellen Herbstprogramm – wie der Radwechsel am Auto und der Sissacher Herbstmarkt.
Vierzehn Mal haben wir brav die Kasse gewechselt. 2025 sind wir wieder bei einer gelandet, bei der wir im 2012/13 zwei lange Jahre Mitglied waren. Bravo. Ich kann bald ein Krankenkassenkärtli-Album anlegen.
Unsere Grundversicherung schlägt nun für 2026 um 12 Prozent auf. Diesmal bleiben wir, wo wir sind – andere sind kaum günstiger. Die Franchise ist hoch, für uns ist das eine reine «worst-case»-Versicherung. Seit jeher bezahlen wir sämtliche Arztkosten aus dem eigenen Sack. Alles Alternativmedizinische und Prävention sowieso.
Wir haben privat Glück, sind halbwegs munter und benötigen eine Frau Ärztin oder den Herrn Doktor eher selten. Gleichzeitig stelle ich mir vor, wie arg jeder Prämienherbst Menschen belasten muss, die wirklich jeden Franken für sich und ihre Kinder umdrehen müssen.
Seit der Jahrtausendwende sind die Kosten im Gesundheitswesen um fast 170 Prozent gestiegen, gegenüber einer allgemeinen Teuerung von nur 17 Prozent. Die Kantone bezahlen von Gesetzes wegen aus unseren Steuergeldern mehr als die Hälfte aller Spitalkosten. Die sogenannte Kopfprämie ist zur Farce geworden: Der Bund subventioniert rund einem Drittel aller Leute im Land individuell die Prämien – und macht in der Regel g'schaffig-fleissige Leute, viele unter uns, ungewollt zu gefühlten Sozialhilfeempfängern. Dieses Gefühl allein macht schon krank.
Unser Gesundheitswesen ist auch ohne fast eine Million jährliche Kassen-Wechsler zum Bürokratiemonster und Selbstbedienungsladen für Anbieter und Patienten geworden. Und vor lauter historisch gewachsenen Struktur-, Spital- und Sachzwängen, Kantönligeist und einflussreichen Lobbygruppen kaum mehr reformierbar. Der nur vermeintlich freie Markt spielt in diesem Ungetüm ein seltsam widersprüchlich’ Spiel mit uns allen.
Eins ist gewiss: Die Prämienlast ist nichts anderes als die Quittung für unser kollektives Verhalten. Und für eine arg verschnupfte
Gesundheitspolitik.
Matthias Plattner wurde 1962 geboren und ist Pfarrer der Reformierten Kirchgemeinde Sissach-Wintersingen.

