«Gegenlesen»
03.06.2025 PersönlichAls junger Redaktor fasste ich Anfang der 1990er-Jahre – vor Aufkommen des World Wide Web – den Auftrag, einen Artikel über die Wanderung der Frösche zu ihren Laichgewässern zu verfassen. Also verbrachte ich zunächst einen halben Tag damit, einen Amphibienexperten ...
Als junger Redaktor fasste ich Anfang der 1990er-Jahre – vor Aufkommen des World Wide Web – den Auftrag, einen Artikel über die Wanderung der Frösche zu ihren Laichgewässern zu verfassen. Also verbrachte ich zunächst einen halben Tag damit, einen Amphibienexperten aufzutreiben. Mithilfe des «Publicus» – einer Art «Telefonbuch» aller Schweizer Institutionen, Vereine und Verbände – klapperte ich mögliche Kontaktpersonen ab. Nach dem elften Telefonat wurde ich von einem Gesprächspartner an einen pensionierten Biologen mit Expertise für Amphibien im Unterbaselbiet verwiesen – und erhielt seine Telefonnummer. 15 Minuten Gespräch, fünf knackige Zitate, und endlich konnte ich losschreiben. Gerade so, dass es zum Redaktionsschluss reichte.
Heute? Ich «google», was immer ich an Experten brauche, und habe in fünf Sekunden einen Ansprechpartner oder eine Gesprächspartnerin. Mit Foto, Lebenslauf, Publikationsliste. Ein Traum. Eigentlich.
Denn jetzt beginnt der moderne Kommunikations-Marathon. Die Direktnummer des Experten? Fehlanzeige. Stattdessen: «Medienanfragen bitte an kommunikation@…». Die automatische Antwort: «Wir haben Ihre Anfrage erhalten und werden diese zeitnah bearbeiten.» Im besten Fall Stunden später meldet sich die «Leiterin Kommunikation & Public Affairs» der Institution: Ob ich meine Fragen schriftlich einreichen könne? Für wen genau ich schreibe? Wann der Text erscheine? An dieser Stelle ist bereits klar: Nicht mehr in der morgigen Ausgabe – dafür ist es zu spät. Einen Tag später erreicht uns die «abgestimmte Stellungnahme»: Drei Seiten PDF voller Worthülsen und Fachbegriffe, ohne eindeutige Aussage oder gar Einordnung. Die zwei konkreten Fragen, die ich gestellt hatte, werden nicht beantwortet. Ich hake nach, bitte um ein Telefonat. Nach zähen Verhandlungen mit der Kommunikationsstelle erhalte ich einen Termin für ein Gespräch, gleichentags zwischen 12.30 und 12.45 Uhr.
Der Experte ist freundlich, auf den Punkt und überaus gesprächig. Von der ursprünglichen Anfrage hat er keine Kenntnis. Dafür sind seine Einordnungen umso klarer, pointiert und durchaus schlagzeilentauglich.
Die Freude darüber währt genau zwei Stunden. Kaum ist der Text fertig, trudelt die nächste E-Mail der Kommunikationsexpertin ein: Wann man den Artikel bitte gegenlesen könne? Es gehe nicht um «Kontrolle», sondern um «die Vermeidung von Missverständnissen». Wer das glaubt und im Sinne eines effizienteren Prozesses den ganzen Artikel herausgibt, lernt: «Missverständnisse» entstehen nicht, weil der Journalist etwas falsch verstanden hat – sondern weil der Experte etwas «zu deutlich» gesagt hat.
Und so sehne ich mich bisweilen zurück in jene Zeiten, als ich den «Publicus» wälzen musste. Denn ohne Termin und fünffachen Filter kamen mit den – mühsam auffindbaren – Menschen umso interessantere, aufschlussreiche Gespräche zu Stande. Mit allen Schikanen einer guten Kommunikation: Nachfragen, Klärungen und deutlichen Worten.
Gegenlesen? Unnötig.
Peter Sennhauser, Redaktor «Volksstimme»