Ganz grosse Fragen
28.11.2025 PersönlichDie Adventszeit ist zauberhaft. Aber wenn ich es mir recht überlege, finde ich jede Jahreszeit zauberhaft. Na ja, kalte, graue Novembertage vielleicht etwas weniger. Aber ich schaue zu jeder Jahreszeit oft in den Himmel, auf die Bäume, die Wiesen, und staune, wie perfekt alles in der ...
Die Adventszeit ist zauberhaft. Aber wenn ich es mir recht überlege, finde ich jede Jahreszeit zauberhaft. Na ja, kalte, graue Novembertage vielleicht etwas weniger. Aber ich schaue zu jeder Jahreszeit oft in den Himmel, auf die Bäume, die Wiesen, und staune, wie perfekt alles in der Natur eingerichtet ist. Vom grossen Zusammenspiel der Elemente bis hin zur Zusammensetzung eines Stücks Erde mit all den Kleinstlebewesen. Von der Umlaufbahn der Gestirne bis zur Form einer Blume. Ich meine damit nicht, dass alles auf eine klinische, standardisierte Weise perfekt ist. Aber überall existieren feine Gleichgewichte, die sich laufend anpassen und all die kleineren und grösseren Imperfektionen austarieren und wieder integrieren.
Und dann schaue ich meine Kinder an und staune, wie perfekt alles am Menschen eingerichtet ist. Wie aus einer befruchteten Eizelle ein ganzer Mensch wird – mit allen Körperfunktionen, was schon ein Wunder an sich ist. Aber auch mit allen Fähigkeiten, Gedanken, Gefühlen und Wünschen. Wie das alles zusammenhängt und -spielt. Wie wir erkranken, wenn wir körperlich und/oder seelisch aus dem Gleichgewicht kommen. Wie auch hier Kräfte am Werk sind, welche viele Unvollkommenheiten ausgleichen oder gar heilen können. Wie ein kleines Kind lernt. Wie wir so eingerichtet sind, dass wir gehen, essen, trinken und schlafen können. Aber auch singen, tanzen, staunen, lachen, musizieren. Zuhören, schweigen, erkennen, verstehen, vergeben, glauben, lieben. Und Dinge erfinden, entwickeln, bauen. Häuser, Flugzeuge, Spiele, Waffen, Maschinen, Computer. Dinge, die uns das Leben erleichtern und verschönern, aber auch Dinge, die unser Leben erschweren oder im schlimmsten Fall zerstören.
Wenn ich einen Wunsch frei hätte, um etwas in diesem Leben zu verstehen, dann wäre es wahrscheinlich Folgendes: Zu begreifen, was der Mensch wirklich ist. Denn es will mir einfach nicht einleuchten, dass wir rein materielle Geschöpfe sind, die mechanisch kommen und gehen und dazwischen ein paar Dinge tun. Ich würde gerne wissen, wieso wir sind, wie wir sind. Wieso jeder von uns mit der Anlage ausgestattet ist, ein gütiger oder ein bösartiger, ein lernwilliger oder ein resignierter Mensch zu werden. Wieso wir mit einem freien Willen ausgestattet sind und diesen trainieren oder verkümmern lassen können.
Ich möchte verstehen, wieso der Mensch nach immer mehr strebt. Nach Glück, Frieden und Erkenntnis. Nach Macht, Herrschaft und der Fähigkeit, alles um, an und in uns zu verändern und zu kontrollieren. Wie dabei der ganze Zauber, die ganze imperfekte Perfektion überführt wird in möglichst kontrollierbare, sterile und standardisierte Systeme. Wie der Mensch laufend daran arbeitet, sich selbst, seinen freien Willen und den Zauber seiner Existenz nicht nur überflüssig zu machen, sondern letztlich abzuschaffen.
Das Leben ist zauberhaft. Im Advent und auch sonst. Aber vielleicht ist gerade diese Adventszeit der perfekte Augenblick, um sich an all den Zauber im Grossen und Kleinen zu erinnern.
Laura Grazioli, geboren 1985, ist Landwirtin und ehemalige Landrätin. Sie lebt mit ihrer Familie in Sissach.

