Für Jugendliche in schweren Krisen
16.08.2024 Bezirk LiestalMangels Therapieplätzen und Fachpersonals müssen Jugendliche in psychischen Krisen in der Schweiz teils Wochen oder Monate auf eine Behandlung warten. Für solche ist in Liestal eine Station mit 13 Betten eingerichtet worden.
Andreas Bitterlin
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Mangels Therapieplätzen und Fachpersonals müssen Jugendliche in psychischen Krisen in der Schweiz teils Wochen oder Monate auf eine Behandlung warten. Für solche ist in Liestal eine Station mit 13 Betten eingerichtet worden.
Andreas Bitterlin
Auf der neuen Intensivtherapiestation der Kinder- und Jugendpsychiatrie Baselland, die als Facheinheit zur Psychiatrie Baselland gehört, werden 14bis 17-jährige Jugendliche aufgenommen, die an Depressionen, Angst und Hoffnungslosigkeit leiden, suchterzeugende Substanzen konsumieren und hinsichtlich Selbstverletzungen und Suizidalität gefährdet sind. Die Betroffenen äussern oftmals, dass sie nicht mehr leben wollen oder versuchen aktiv, sich das Leben zu nehmen. Für sie bietet die neue Therapiestation in Liestal mit 13 Betten eine hochintensive psychiatrische, psychotherapeutische und pflegerische Betreuung in einer modernen Klinikumgebung.
Einbezogen in die Behandlungen werden auch Sozialpädagogik, Sport-, Kunst- und Ergotherapie sowie ein Schulangebot, was zentral ist, um die Jugendlichen möglichst bald, aber gestärkt, ins Leben entlassen zu können.
Die neue Station bietet auch die Möglichkeit, die Patientinnen und Patienten nach dem Austritt als externe Tagespatienten weiter zu betreuen, damit keine Beziehungsbrüche entstehen und sie weiter von den Fachleuten behandelt werden, die sie vom stationären Aufenthalt her kennen.
Jugendliche in Arbeit einbinden
In der Kinder- und Jugendpsychiatrie Baselland werden jährlich fast 500 Minderjährige stationär und 4000 ambulant behandelt. Direktor und Chefarzt Jochen Kindler weist darauf hin, dass die klinische Psychiatrie sehr lange ihr Augenmerk auf «nicht funktionierende» Faktoren der Patientinnen und Patienten gerichtet hat. «Heute weiss man aber, dass daneben die Ressourcen, also die Stärken der Kinder und Jugendlichen, die alle in sich tragen, eine mindestens ebenso grosse Rolle spielen.» Deshalb werden nun spezifisch die Bereiche, in denen Jugendliche «stark» sind, gefördert. So können die Patientinnen und Patienten gemäss Jochen Kindler «über Erfolgserlebnisse weiterkommen und ein Gefühl von Selbstwirksamkeit wiedererlangen.»
Die «Volksstimme» durfte auf der neuen Station einen Rundgang machen. Angekommen bei den Patientenzimmern, fällt auf, dass den Jugendlichen Einzelzimmer zur Verfügung stehen, obwohl sie oft nicht zusatzversichert sind. Sie können sich in einen eigens dafür eingerichteten Ruheraum mit entsprechenden Liegemöglichkeiten und beruhigender Beleuchtung zurückziehen. Ebenfalls zu einem Aufenthalt lädt eine grosse Terrasse mit wunderbarer Aussicht in die Umgebung von Liestal ein.
In der Küche der Station kocht die Kochgruppe zweimal wöchentlich für alle und einmal wird für alle gebacken. Die Patientinnen und Patienten werden auch in die Arbeit im neuen Gewürzgarten eingebunden. Ein grosszügig eingerichteter Kunst- und Ergotherapieraum, in dem viele Materialien wie etwa Farben und Werkzeuge für gestalterisches Werken vorhanden sind, ergänzt das Angebot.
Eine Kooperation der Kinder- und Jugendpsychiatrie Baselland mit den entsprechenden Institutionen von Basel-Stadt wurde institutionalisiert mit dem Ziel, Doppelspurigkeiten zu verhindern. Behandlungen von Notfällen mit akuter Selbstgefährdung werden nur in der Psychiatrie Baselland durchgeführt, längere Therapien für Kinder unter zwölf Jahren an den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel. Diese Zusammenarbeit ist laut Jochen Kindler seit Jahrzehnten bestens etabliert.
Wie steht es auf der neuen Intensivtherapiestation um freiheitsbeschränkende Massnahmen wie zum Beispiel das Abschliessen und Sperren der Stationstüre? Diese Möglichkeit besteht, wobei gemäss Jochen Kindler die neue Station meistes offen und nur punktuell geschlossen wird, wenn alle anderen therapeutischen Optionen ausgeschöpft sind. «Die Möglichkeit, Jugendliche zurückzuhalten, ist in jenen Fällen notwendig, in denen eine chronische und hohe Gefährdungssituation auftritt, zum Beispiel aufgrund von unkontrollierbarem Substanzmittelkonsum oder akuter Suizidalität», so Kindler. Das Abschliessen der Türe sei jeweils immer der letzte Ausweg, aber dann sinnvoll, wenn das Gefährdungspotenzial so hoch ist, dass es um Leben und Tod geht.
Für Jochen Kindler sind mehr sozialpädagogische Einrichtungen vonnöten, die in bestimmten Situationen Türen schliessen können und dürfen. Er legt Wert darauf, dass solche Institutionen «keine Gefängnisse sind, sondern einen pädagogischen und therapeutischen Zweck haben».
Problembehaftete neue Medien
In den letzten Jahren hätten die psychischen Erkrankungen von Minderjährigen zugenommen, so Kindler. Er erläutert die Ursachen für diese Entwicklung: Das Klima, der Krieg in der Ukraine und zunehmende wirtschaftliche Unsicherheiten machen den Jugendlichen Angst. Neu kommen die Sozialen Medien hinzu, die Kriege unmittelbar und ungefiltert auf jedes Smartphone projizieren. Zudem locken Internetspiele, die mit suchterzeugenden Belohnungseffekten gespickt sind, was das Denken und die Entwicklung der Jugendlichen verändert. Und über Influencer werden Traumwelten erzeugt, die wenig mit der Realität zu tun haben, aber das Körperbild, besonders von jungen Mädchen, negativ beeinflussen.
Cyber-Mobbing sei mittlerweile ein veritables und kaum kontrollierbares Problem. «Diese Thematik fliesst in die Therapie ein mit dem Ziel, die Jugendlichen zu einem verantwortungsvollen Umgang mit digitalen Medien zu führen.» Die Zunahme von psychischen Erkrankungen unter Jugendlichen und die vielen bevorstehenden Pensionierungen von niedergelassenen Ärzten der Psychiatrie würde den Fachkräftemangel akzentuieren, was zu längeren Wartezeiten führt, bis ein Termin für die Behandlung gefunden wird.
Die neue Intensivtherapie-Station schliesst eine Lücke im Angebot für diejenigen, die unmittelbare Hilfe benötigen. Kindler relativiert aber: «Das deckt nur die Spitze des Eisbergs ab, ist aber ein guter und wichtiger Anfang, um die Situation zu verbessern.»