«Es war eine Ausnahmesituation»
31.05.2025 BaselbietHeute vor fünf Jahren endete der erste Corona-Lockdown
Fünf Jahre nach der Aufhebung des Lockdowns blickt der Chef des Baselbieter Krisenstabs Patrik Reiniger auf eine intensive Zeit zurück und erklärt, was der Kanton aus der Corona-Pandemie für Lehren gezogen ...
Heute vor fünf Jahren endete der erste Corona-Lockdown
Fünf Jahre nach der Aufhebung des Lockdowns blickt der Chef des Baselbieter Krisenstabs Patrik Reiniger auf eine intensive Zeit zurück und erklärt, was der Kanton aus der Corona-Pandemie für Lehren gezogen hat. «Kantönligeist» sei bei solchen Extremereignissen fehl am Platz.
Tobias Gfeller
Herr Reiniger, Sie leiten das Amt für Militär und Bevölkerungsschutz sowie den Kantonalen Krisenstab – den heutigen Führungsstab. Sie waren einer der wichtigsten Köpfe in der Bewältigung der Corona-Pandemie im Baselbiet. Wie prägend sind Ihre Erinnerungen an die Zeit im Frühjahr 2020, als fast das ganze Leben heruntergefahren wurde?
Patrik Reiniger: Die Erinnerungen sind noch immer sehr präsent. Wir hatten damals ein Jahrhundertereignis. So etwas hatte ich vorher noch nie erlebt. Wenn man zurückdenkt, liegt der erste Corona-Lockdown in der Schweiz gefühlt noch keine fünf Jahre zurück.
Welche Gefühle verbinden Sie mit der ersten Phase der Pandemie und der Aufhebung des Lockdowns?
Als alles anfing, herrschte grosse Unsicherheit. Wir wussten nicht genau, was da für eine unglaubliche Apokalypse auf uns zurollt. Wir hatten Informationen aus anderen Ländern und aus dem Kanton Tessin, wo viele Menschen gestorben sind und die Spitäler an ihre Grenzen stiessen. Wir mussten uns fragen, ob bei uns in wenigen Wochen mehrere Tausend Menschen sterben werden.
Wurde es zur Apokalypse, wie Sie es befürchten mussten? Oder wie würden Sie diese Zeit rückblickend bezeichnen?
Apokalypse würde ich es im Rückblick nicht nennen. Es war eine unglaubliche Ausnahmesituation, eine ausserordentliche Lage, die wir so noch nie hatten.
Als Krisenstab-Leiter hatten Sie eine zentrale Rolle in der Bewältigung der Krise. Wie gingen Sie mit dem immensen Druck um?
Der Druck war unglaublich gross. Es kam eine Bedrohung auf uns zu und viele Menschen hatten Angst. Wichtig ist, dass man ein gut funktionierendes Team hat. Dann kann man motiviert arbeiten und besser mit dem Druck umgehen. Alle Mitglieder des Kantonalen Krisenstabs und der Regionalen Führungsstäbe hatten das übergeordnete Ziel vor Augen, die Bevölkerung zu schützen. Alle waren während mehreren Wochen jeden Tag 24 Stunden bereit – auch am Wochenende. Man funktionierte einfach und macht sich wenig Gedanken, wie man mit dem Druck umgeht. Ein wichtiger Faktor war das grosse Engagement der Regierung, die stets präsent war und wichtige Entscheidungen getroffen hat.
Nach der Aufhebung des Lockdowns Ende Mai geriet Corona während der Sommermonate 2020 bei der breiten Bevölkerung in den Hintergrund. Konnten Sie in dieser Phase auch mal durchatmen?
Wenig. Unsere Arbeit ging ohne Unterbruch weiter. In der ersten Welle liefen wir dem Ereignis, dem Virus, stets hinterher. Deshalb bereiteten wir uns im Sommer 2020 auf die zweite Welle vor. Wir wollten dem Virus einen Schritt voraus sein. Wir sammelten viele Informationen und wussten, dass wir durch breites Testen das Virus eindämmen können. In Zusammenarbeit mit Laboren entstanden Massentests mit dem neuartigen Spucktest, die wir zum Beispiel in Unternehmen, Alters- und Pflegeheimen sowie an den Schulen durchgeführt haben.
Die Todesfälle nahmen im Herbst 2020 – zu Beginn der zweiten Welle – markant zu. Der Impfstoff war nah und zugleich doch so fern. Wie gingen Sie mit dieser Situation um?
Das war für mich persönlich die belastendste Phase der Pandemie. Wir hatten vor allem in den Altersund Pflegeheimen einen markanten Anstieg der Todesfälle zu beklagen. Die Erleichterung war gross, als der Impfstoff da war und wir mit mobilen Teams beginnen konnten, in den Heimen Freiwillige zu impfen und den Anstieg der Todeszahlen dadurch markant zu bremsen. Durch die Impfung konnte auch die strikte Isolation aufgehoben werden.
Wie gut war der Kanton Baselland auf die Pandemie vorbereitet?
Wir hatten einen Pandemieplan, der wie ein erster Knopf im Hemd funktioniert hat. Eine solche Planung hilft beim Start eines Ereignisses. In Sachen Konzeption – dazu gehört auch die Organisationsstruktur im Krisenstab und beim Personal – waren wir wirklich gut vorbereitet. Im Baselbiet stellte sich die Frage nicht, wie wir uns im Ernstfall aufstellen. Beim Bund und teilweise in anderen Kantonen kamen jedoch nicht wie vorgesehen die Krisenstäbe zum Einsatz, sondern ad-hoc-Stäbe, die gebildet wurden. Plötzlich stellten sich einige Partner anders auf, als es bei der letzten grossen Pandemieübung im Jahr 2014 geübt wurde. Dies war unglaublich schwierig, weil wir nicht wussten, wer beim Bund und in anderen Kantonen im Lead war.
Beim Material war aber auch der Kanton Baselland schlecht aufgestellt.
In der Tat. Wir hatten viel zu wenig Schutzmasken und Desinfektionsmittel. Sogar Brennereien im Baselbiet halfen aus, um Desinfektionsmittel herzustellen.
Was hat man aus der Pandemie gelernt und in welchen Bereichen ist der Kanton heute besser aufgestellt?
Gelernt haben wir, dass wir zwar Konzepte erstellen können, das Training aber zentral ist. Nur so lernt man, die Konzepte umzusetzen. Wir haben die Trainingsintensität im Kantonalen Führungsstab nach Corona deutlich erhöht. Die Trainings finden in Theorie und Praxis an originalen Standorten statt. Das betrifft sämtliche Themenfelder, nicht nur Pandemien. Dabei braucht es nicht nur grosse Übungen mit viel Personal, sondern auch kleinere, in denen wir Puzzleteile von grösseren Ereignissen durchspielen. Wichtig ist auch, dass die Regierung mit dabei ist, damit die Schnittstellen greifen. Auch haben wir heute natürlich genügend Schutzmaterial. n
Wie gelingt es, dass 20 oder 50 Jahre nach dem Jahrhundertereignis Covid-19 nicht das Gefühl aufkommt, dass sowieso nichts passieren wird und die Vorbereitungen vernachlässigt werden?
Das ist ein wichtiger und zugleich schwieriger Punkt. Im Kanton Baselland haben wir anhand der gesammelten Erfahrungen mit allen Partnern den Pandemieplan komplett überarbeitet. Der aktualisierte Plan wurde am 1. April vom Regierungsrat zur Kenntnis genommen und er ist öffentlich einsehbar. Darin sind auch Verantwortlichkeiten geregelt, zum Beispiel in Sachen Material. Es ist essenziell, dass es nicht zu einer Vernachlässigung der Übungen und Vorbereitungen kommen wird.
Während der Pandemie dominierte der «Kantönligeist». Unvergessen sind die unterschiedlichen Regelungen, die teilweise zu grotesken Situationen führten. In Langenbruck zum Beispiel durfte nur der untere Skilift auf Baselbieter Boden betrieben werden, der obere auf Solothurner Boden nicht. Inwiefern kam der Föderalismus an Grenzen?
In der ersten Welle schauten die Kantone primär für sich. Das änderte sich im Verlauf der Pandemie aber zunehmend. Wenn man eine Pandemie wie Covid-19 nur kantonal bekämpft, leidet der Schutz der Menschen. Auch das ist eine Lehre für mich. Regionale Zusammenarbeit ist unabdingbar, dazu zählen auch die Vorsorgeplanungen im Gesundheitsraum Baselland / Basel-Stadt, die ein absolutes Schlüsselelement für die Durchhaltefähigkeit des Systems sind. Wir können in Krisen nur durchhalten, wenn man alle Ressourcen nutzen kann, die zur Verfügung stehen – alleine geht es nicht.