«Es braucht einen Intermediär»
23.10.2025 BaselbietPro-Senectute-Chef plädiert für mehr Anerkennung pflegender Angehöriger und eine gesamtheitliche Betrachtung
Mit der Zunahme an älteren Menschen wächst der Bedarf an Pflegeleistungen. Vielfach pflegen Kinder ihre betagten Eltern. Michael Harr, ...
Pro-Senectute-Chef plädiert für mehr Anerkennung pflegender Angehöriger und eine gesamtheitliche Betrachtung
Mit der Zunahme an älteren Menschen wächst der Bedarf an Pflegeleistungen. Vielfach pflegen Kinder ihre betagten Eltern. Michael Harr, Geschäftsführer von Pro Senectute beider Basel, sieht auf vielen Ebenen Verbesserungsbedarf. Zu reden geben Spitex-Organisationen, die mit pflegenden Angehörigen Geld verdienen.
Tobias Gfeller
Herr Harr, würden Sie sich bei einer Firma anstellen lassen, um Geld zu verdienen, wenn Sie jemanden aus Ihrer Familie pflegen und betreuen?
Michael Harr: Die Frage geht tiefer. In dieser Thematik geht es auch um die Anerkennung der Menschen, die pflegen und Alltagsunterstützung leisten. Dies passiert zumeist unentgeltlich und wird nicht gehört und gesehen. Viele Menschen in dieser Situation fühlen sich alleingelassen. Es geht auch um finanzielle Fragen, wenn Kinder für die Pflege ihrer Eltern auf Lohn verzichten. Sie fallen durch alle Maschen, indem sie unter anderem keine AHV- und Pensionskassenbeiträge bezahlen können. Wir müssen diesen Menschen mehr Gehör, Wertschätzung und Anerkennung geben und schauen, wie sie finanziell stärker unterstützt werden können, indem ihnen zum Beispiel ein Lohn bezahlt wird.
Sie würden sich also bei einer Spitex-Organisation anstellen lassen, obwohl diese den Grossteil der von den Krankenkassen ausbezahlten Beträge selbst behält?
Es gibt verschiedene Finanzierungsmöglichkeiten. Dazu gehören Betreuungsgutscheine, Ergänzungsleistungen und die Hilflosenentschädigung. Je nachdem würde ich mich schon anstellen lassen. Wenn ich keine Erwerbstätigkeit mehr ausüben kann, weil ich Angehörige pflege, ist eine faire Entlöhnung notwendig. Ob diese über Spitex, Betreuungsgutscheine oder Ergänzungsleistungen erfolgt, muss je nach Situation beurteilt werden. Die Frage ist immer auch, wie man es regeln möchte: Man könnte die Pflegeleistungen auch extern einkaufen, wobei die Pflege von Angehörigen nicht nur eine finanzielle, sondern auch eine emotionale Komponente hat.
Wo liegen die Kernprobleme des Systems der pflegenden Angehörigen?
Die Gruppe, die gepflegt werden muss, ist stark gewachsen. Es ist viel im Stillen gelaufen, es gab und gibt viel Leid, weil die Menschen auf vieles verzichten – finanziell, sozial und psychisch. Das Verantwortungsgefühl, in gewissen Fällen auch Pflichtgefühl, ein Familienmitglied zu pflegen, führt teilweise auch zur Selbstaufgabe, indem die eigenen Bedürfnisse komplett zurückgestellt werden. Erst jetzt formiert sich etwas, und die Leistungen werden transparent, dass so viele Menschen zu Hause andere Menschen pflegen. Es gibt in der Schweiz rund 600 000 Menschen, die zu Hause auf privater Basis jemanden pflegen. Wir müssen dieses Thema dringend angehen.
Dass pflegende Angehörige finanziell entschädigt werden können, ist relativ neu. Welche Lücken im System sehen Sie als Geschäftsführer von Pro Senectute beider Basel?
Ob die Form, bei Organisationen angestellt zu sein, die richtige ist, kann man diskutieren. Es braucht Formen der Anerkennung. Es braucht neben der direkten finanziellen Entschädigung auch mehr indirekte Finanzierungen und Angebote, um die pflegenden Angehörigen zu entlasten. Dazu gehören Ferienbetten und Tagesstrukturen. Da fehlt es an niederschwelligen Angeboten. Man kann aber nicht nur Geld fordern, es braucht für solche Angebote auch Personal. Wir als Pro Senectute beider Basel begleiten pflegende Angehörige mit einem breiten Unterstützungsangebot, das weit über klassische Pflege hinausgeht – von der Steuerberatung bis zur psychosozialen Entlastung. Wir sehen uns als Brücke zwischen Pflegealltag und sozialer Absicherung.
Sie erwähnten die psychischen und physischen Belastungen der Pflege von Angehörigen. Können Sie dies ausführen?
Viele Angehörige, die pflegen und sich kümmern, sind extrem belastet und mit den Nerven am Ende. Sie fühlen sich verpflichtet und sagen: «Wenn ich nicht gehe, wer geht dann?» Die eigenen sozialen Kontakte werden aufgegeben. Dies führt auch zu Einsamkeit. Wenn dann die Eltern sterben, kann man sich nicht einfach einen neuen Freundeskreis suchen.
Wo drückt der Schuh am meisten, wenn Sie bei Pro Senectute die Rückmeldungen als Gradmesser nehmen?
Es ist ein Thema, in das man hineinschlittert, ohne dass man es merkt. Man sagt nicht: «Ich werde pflegender Angehöriger.» Deshalb haben wir Ratgeber, auf was man achten muss und wo man sich Hilfe holen kann. Wir sehen viele Menschen, die sich verpflichtet fühlen und dadurch selbst an Lebensqualität verlieren. Diese müssen wir bestärken, dass sie sich bewusst sind, dass sie auch auf sich selbst achten und ihre Ressourcen einteilen müssen. Ein weiteres Thema sind die Unterstützungsmöglichkeiten, die es gibt, aber nicht bei allen bekannt sind.
Kommt es häufig vor, dass Sie bei Pro Senectute pflegenden Angehörigen sagen müssen, sie sollten auch auf sich selbst achten?
Auf jeden Fall. Wir müssen sagen, dass sie auch ihre eigenen Beziehungen pflegen sollen. Man darf sich nicht selber aufgeben. Man muss zu seinem eigenen Leben stehen und kein schlechtes Gewissen haben, wenn man mal einen Tag oder eine Woche nicht zu den Eltern geht. Die eigene Mutter oder den eigenen Vater zu duschen, das ist auch mit Scham und vielen Emotionen verbunden. Wir erleben es leider auch, dass pflegende Angehörige krank werden – physisch und psychisch.
Der Bundesrat gab am 15. Oktober bekannt, dass er am System festhalten will, dass pflegende Angehörige von Unternehmen angestellt werden können und die Kosten dafür die Krankenkassen tragen müssen. Der Lead liege bei den Kantonen. Kritisiert wird, dass Spitex-Organisationen damit viel Geld verdienen. Wie stehen Sie dazu?
Geld ist ein wichtiges Thema, aber nicht das einzige. Mit Geld sind auch Anerkennung und Gehör verbunden. Klar ist dies auch ein Geschäft. Es ist aber auch eine Dienstleistung, bei der man sagen muss, es braucht einen Intermediär zwischen Leistungserbringer – also den Pflegenden – und jenen, welche die Kosten tragen, in diesem Fall die Krankenkassen. Bei diesem Thema muss man immer auch beachten, dass dieses Modell viel günstiger ist, als wenn die zu pflegende Person früher ins Alters- und Pflegeheim eintreten müsste. Auch deshalb braucht es mehr niederschwellige Angebote und Informationen, um die pflegenden Angehörigen zu entlasten.
Empfinden Sie es nicht als verwerflich, dass private Organisationen aus dem Leid der Betagten und deren Angehörigen Profit schlagen und damit hohe Gewinne auf Kosten der Allgemeinheit erzielen?
Ich kann die Kritik nachvollziehen. Das Modell hat Vorteile, etwa die finanzielle Absicherung für pflegende Angehörige. Aber es darf nicht dazu führen, dass private Anbieter übermässig profitieren, während die Pflegenden selbst wenig sehen. Hier braucht es Transparenz und kantonale Kontrolle. Ich sehe im ganzen System nicht den alleinigen Schuldigen. Es ist sehr komplex. Es gibt viele Meinungen dazu. Die Situation ist aber klar: Wir werden immer älter. Mit der dafür nötigen Infrastruktur kommen wir fast nicht nach. Das muss uns allen bewusst sein.

