Du bist nicht vor der Armut geflohen. Du bist vor dem Krieg geflohen. Vor dem Tod. Mit einem kleinen Rucksack – in ein fremdes Land. Wo selbst die Sonne anders scheint. Wo dein Nachname zu unaussprechlich ist für die Menschen.
Du hast eine Generation gross gezogen. ...
Du bist nicht vor der Armut geflohen. Du bist vor dem Krieg geflohen. Vor dem Tod. Mit einem kleinen Rucksack – in ein fremdes Land. Wo selbst die Sonne anders scheint. Wo dein Nachname zu unaussprechlich ist für die Menschen.
Du hast eine Generation gross gezogen. Hast Universität, Zeitenwandel, den Verlust des Heimatlandes durchlebt. Du wurdest gebraucht – zu Hause, bei der Arbeit, von Freunden. Und jetzt bist du – nur noch eine Datei mit einer Nummer. Nur noch ein Mensch ohne Sprache.
Du bittest nicht um viel. Nicht um Karriere. Nicht um Anerkennung. Du willst nützlich sein. Du selbst sein. Doch hier – gelten andere Regeln. Und du hast keine Zeit, wieder bei Null zu beginnen.
Die Hände, die einst erschufen, zittern nun vor Untätigkeit. Du liest Zeitungen, verstehst aber keine Worte. Du siehst Menschen an – und findest keinen Blick. Denn kaum jemand schaut dorthin, wo du bist.
Du versuchst, die Sprache zu lernen. Aber sie ist wie ein kalter Fluss. Sie dringt nicht in die Seele. Sie heilt nicht die Einsamkeit. Sie macht dich stumm.
Du suchst Arbeit. Doch dein Alter ist kein Vorteil mehr, sondern ein Urteil. Erfahrung – das ist ein Archiv, kein Lebenslauf. Das Diplom – ein Relikt. Du bist zu sehr «von früher», um gebraucht zu werden.
Du lebst inmitten von Freundlichkeit. Doch diese Freundlichkeit ist kein Zuhause. Keine Heimat. Kein Schicksal. Sie ist nur eine Erlaubnis, da zu sein. Aber nicht, du selbst zu sein.
Und du fragst dich: Warum bin ich hier? Wer bin ich hier? Wenn alles, was ich war, in einem Land geblieben ist, das nicht mehr wiederzuerkennen ist. Und das dich wohl auch nicht mehr erkennt.
Das ist keine Schwäche. Das ist Mut – mit 66. Mit 72. Mit 80. Den Tag zu beginnen in einem Land, in dem dich niemand kennt. Und trotzdem der Verkäuferin zuzulächeln. Und «Danke» zu sagen, auch wenn es weh tut.
Geschützt zu sein – heisst nicht, lebendig zu sein. Es heisst: warten. Und hoffen, dass du noch nicht verschwunden bist. Dass du noch jemandem wichtig bist. Irgendwo. Irgendwann. Wenigstens noch ein bisschen.
Serhii Dolhozhyv, geboren 1958 in der Ukraine, lebt seit mehreren Jahren als Geflüchteter im Baselbiet. Der pensionierte Lehrer und frühere Maschinenbauingenieur beschäftigt sich heute mit Migration, Identität, ethischer Verantwortung, Gesellschaftsanalyse und politischer Philosophie. Dieser Text ist Ausdruck seiner persönlichen Erfahrungen und Beobachtungen als Zugewanderter in der Schweiz. Es ist die stille, oft übersehene Perspektive älterer Geflüchteter. Insbesondere jener Menschen, die sich trotz Krieg, dem Verlust ihrer Heimat und Sprachbarrieren mit Würde in der Schweiz zurechtzufinden versuchen.