Eine Flucht, die drei Jahre dauerte
12.12.2025 ZunzgenAmir, heute 23-jährig, musste Afghanistan einst überstürzt verlassen
«Als ich 14 Jahre alt war, passierte etwas Schlimmes …», erzählt Amir, der aus Afghanistan stammt. Es war der Beginn einer langen, ereignisreichen und gefährlichen Reise. In ...
Amir, heute 23-jährig, musste Afghanistan einst überstürzt verlassen
«Als ich 14 Jahre alt war, passierte etwas Schlimmes …», erzählt Amir, der aus Afghanistan stammt. Es war der Beginn einer langen, ereignisreichen und gefährlichen Reise. In Zunzgen fand er schliesslich Aufnahme.
Aufgezeichnet von Jürg Dalcher
«Aufgewachsen bin ich in einem Dorf in den Bergen, zusammen mit einem jüngeren Bruder und einer Schwester. Meine Eltern waren Bauern, wir besassen etwa 30 Ziegen und Schafe. Land und Haus gehörten einem Besitzer, dem wir zwei Drittel der Ernte abliefern mussten. Der Rest reichte uns gerade zum Leben. Die Tiere gehörten uns und mit dem Erlös von der Milch und dem Fleisch hatten wir Geld für das Nötigste.
Mit 5 Jahren kam ich in die Schule, da mussten wir nur Koranverse auswendig lernen. Und auch dies nur in den drei Wintermonaten, die übrige Zeit half ich zu Hause. Talibanleute, die meist Paschtunen sind, lebten überall in den Dörfern. Die Menschen in unserem Dorf waren mehrheitlich Schiiten, und daher gab es auch Konflikte mit ihnen.
2017 passierte etwas Schlimmes, von dem ich nicht erzählen kann. Wir mussten schnell den Hof verlassen und meine Mutter wollte mit uns Kindern in den Iran fliehen. Ich war da 14 Jahre alt. Doch die Polizei erwischte uns nach der Grenze und es gelang nur mir wegzurennen und mich auf einer Baustelle zu verstecken. So begann meine Flucht, die schliesslich 3 Jahre dauern sollte.
Im Iran schnitt ich Steine zu Platten, diese waren sehr schwer. Nach 5 Monaten hatte ich genügend Geld, um eine Organisation bezahlen zu können, die mich mit dem Auto vor die türkische Grenze brachte.
Ich ging nach Istanbul. Der Weg ist gefährlich, Flüchtlinge werden immer wieder überfallen, getötet und ihre Organe verkauft. Du willst einfach vorwärts und weisst, es geht nur darum: entweder zu leben oder zu sterben. Ich musste lange arbeiten, als Autowäscher, bis 18 Stunden pro Tag, bis ich 800 Euro zusammen hatte. Ich konnte damit meine Flucht nach Griechenland bezahlen. Dreimal wurde unser Schlauchboot mit 35 Leuten von der Küstenwache aufgegriffen und zurückgeschickt, beim vierten Mal landeten wir nach einer stürmischen, 4 Stunden dauernden Überfahrt auf Lesbos. Ich schrieb den Fluchthelfern, dass ich angekommen sei, und erst jetzt konnten sie das Geld auf einem Sperrkonto auslösen.
Auf einer Lkw-Hinterachse
Ich war lange im Lager Moria, bis dieses niederbrannte. Mit 17 Jahren kam ich ins Lager Lamia. Dort besuchte ich eine Schule und half bei der Olivenund Orangenernte, die ausserhalb des Lagers stattfand. Dafür bekam ich etwas Geld. Als Minderjähriger geniesst du etwas mehr Freiheiten, und da ich das Geld gespart hatte, wollte ich weiter. So probierte ich es über die albanische Grenze, was nicht gelang, und ging nach Patras, wo ich mich unter einen Sattelschlepper auf die Hinterachse legte. Er fuhr mit zwei Fähren bis Italien und nach einer langen Fahrt hielt er endlich auf einer Raststätte und ich konnte völlig gerädert und hungrig hervorkriechen.
Über 30 Stunden bin ich so unterwegs gewesen, ausser meinem Handy und den verdienten 160 Euro hatte ich nichts dabei. Davon bezahlte ich 100 Euro einem Italiener, der mich zusammen mit anderen Menschen, die auch auf der Flucht waren, auf einen Rastplatz fuhr. Bis zur französischen Grenze war es nicht weit. Hier fanden wir einen Camion, dessen Türe nicht abgeschlossen war. Mit etwa 20 Leuten kletterte ich hinein und der Italiener schloss wieder zu. Auf dem Handy sahen wir irgendwann, dass wir in Frankreich waren und als er hielt, klopften wir. Der Chauffeur öffnete die Türe – und bekam fast einen Schock, wir aber waren in Nizza.
Mit den verbliebenen 60 Euro kaufte ich Proviant. In Genf wusste ich einen Kollegen, den ich vom Camp Moria her kannte, und machte mich auf den Weg zu ihm. Ich benutzte Regionalzüge, das verbliebene Geld sparte ich fürs Essen. Einige Male musste ich den Zug verlassen, weil ich kein Billett hatte. Etwa 20 Kilometer vor der Grenze stieg ich aus und suchte mit dem Handy einen Weg zu Fuss, so gelangte ich unentdeckt zu meinem Freund.
Lehre als Automobil-Assistent
Er riet mir, nach Zürich zu gehen, wo mir die Polizei einen Passierschein nach Chiasso ausstellte. Danach wurde ich für 3 Wochen auf den Glaubenberg geschickt. Hier begann ich, Deutsch zu lernen, und nachdem ich die F-Bewilligung erhalten hatte, fuhr ich im Juni 2020 nach Zunzgen.
Da war ich 18 Jahre alt. Zuerst besuchte ich einen Deutschkurs und konnte anschliessend das Brückenangebot absolvieren. Dort lernte ich auch Deutsch, bis Niveau B1, und wurde auf das Arbeitsleben vorbereitet. Ich konnte Schnupperlehren absolvieren und fand 2024 eine Lehrstelle als Automobil-Assistent in einer Sissacher Garage. Diese dauert 2 Jahre. Im Dorf teile ich eine 2-Zimmer-Wohnung mit einem Kollegen. Ueli Wyss von den Freiwilligen für Flüchtlinge erteilt mir seit 2 Jahren jede Woche 2 Stunden Nachhilfeunterricht in Mathematik.
In der Schweiz liebe ich die Berge und fahre häufig am Wochenende mit «Gleis 7» frühmorgens ins Wallis oder ins Berner Oberland, wo ich wandere und in meinem kleinen Zelt übernachte. Bei schlechtem Wetter bike ich auf die Sissacher Fluh und mache dort Kraftübungen. Kürzlich durfte ich mit der SAC-Jugendorganisation ein Wochenende verbringen, geleitet von einem Bergführer. So lernte ich auch ein bisschen Klettertechnik und hoffe, dass ich weiterhin dort mitgehen kann. Bei der Sissacher Tafel helfe ich nach Feierabend bei den Vorbereitungs- und Aufräumarbeiten. Ich habe ein Gedicht gefunden, das sehr auf mich zutrifft:
«Über den Wolken finde ich mich selbst.
Stille. Höhe. Freiheit – das ist mein Weg.
Denn jeder Gipfel beginnt mit einem mutigen Schritt.»
Jürg Dalcher wirkt bei der Gruppierung «Freiwillige für Flüchtlinge Sissach» mit. Die Serie wird in loser Folge fortgesetzt.

