Eine Eptinger Luchsdame im Exil
28.03.2025 BaselbietVor einem Jahr wurde in Eptingen ein Luchs gefangen und im westlichen Erzgebirge in Deutschland freigelassen – mit dem Ziel, eine neue Luchspopulation aufzubauen. Die «Volksstimme» hat sich erkundigt, wie es Alva nun geht und wozu solche Tierumsiedelungen dienen.
...Vor einem Jahr wurde in Eptingen ein Luchs gefangen und im westlichen Erzgebirge in Deutschland freigelassen – mit dem Ziel, eine neue Luchspopulation aufzubauen. Die «Volksstimme» hat sich erkundigt, wie es Alva nun geht und wozu solche Tierumsiedelungen dienen.
Daniel Zwygart
Anfang März 2024 erhält der Verantwortliche für Luchsfänge der Stiftung KORA (siehe Kasten) die Meldung, dass es in Eptingen einen frischen Rehriss eines Luchses gebe. Ein Fangteam bestehend aus Wildbiologe, Tierärztin und Helfenden rückt umgehend aus und installiert mehrere Fussschlingenfallen rund um den Rehkadaver. Die Fallen werden mit Laub getarnt. Im nahe gelegenen Bauernhof wartet das Team an der Wärme gespannt.
Eine der Fallen schnappt zu. Als die Meldung beim Fangteam eintrifft, muss alles schnell gehen. Tatsächlich wird ein Luchs beim Reh von einer gefederten Fussschlinge festgehalten. Ein grobmaschiges Netz wird über den Luchs gelegt und das Tier ruhig gehalten. Sobald die verabreichte Narkose wirkt, kann das Tier untersucht werden. Freudig stellt man fest, dass es sich beim äusserlich gesund aussehenden Tier um ein Weibchen im Alter von drei bis sechs Jahren handelt. Denn für das Umsiedlungsprojekt ins Erzgebirge in Sachsen (D), dem diese Luchsjagd von KORA gilt, wird ein fortpflanzungsfähiges Weibchen gesucht. Der Luchsin wird im Rahmen der Erstuntersuchung auch Blut abgenommen. Nun erhält sie ein Senderhalsband und wird auf den Namen «Alva» getauft.
Bevor Alva ihre lange Reise ins Erzgebirge antreten kann, muss sie in einem nicht öffentlich einsehbaren Gehege des Berner Tierparks Dählhölzli in Quarantäne. Denn man will sicher sein, dass in den gewonnenen Blut- und Tupferproben keine Hinweise auf Krankheiten vorhanden sind.
Freilassung und Überwachung
In einer dunklen Kiste mit Luftlöchern wird Alva nach Sachsen transportiert. Am 28. März 2024 kann sie in Anwesenheit von vielen Fachkundigen im Eibenstocker Forst im westlichen Erzgebirge freigelassen werden. Alva ist nun das dritte umgesiedelte Tier im Rahmen des Projekts zur Wiederansiedlung des karpatischen Luchses im Erzgebirge (siehe Kasten RELynx Sachsen). Schon am 4. April wird Alva von einer automatischen Wildkamera am Riss eines Rehs beim Fressen gefilmt. Die Erleichterung ist gross.
Die umgesiedelten Luchse werden in Sachsen in den ersten Jahren nach ihrer Freilassung möglichst engmaschig überwacht. Das Senderhalsband liefert automatisch GPS-Daten des Standorts, Tiere können gezielt auch angepeilt und beobachtet werden. Fotos von vielen Wildkameras erfassen weitere Informationen wie Futtertransport oder soziale Interaktionen.
Laut Catriona Blum-Rérat vom Projekt RELynx Sachsen geht es Alva gut. Rissspuren deuteten darauf hin, dass Alva hauptsächlich Rehe fresse, obwohl es auch Rotwild und Wildschweine gäbe, sagt die Biologin. Dass sie gelegentlich einen Hasen als Snack verspeist, sei durchaus möglich. Allerdings finde man kaum Fellspuren einer solchen Mahlzeit. Nutztierrisse durch Alva seien bisher keine bekannt.
Pro Nacht lege die «Eptinger» Luchsin Strecken von bis zu 15 Kilometern zurück – oft zwischen einem Riss und ihrem Tagesaufenthalt. Ihr Streifgebiet von rund 300 Quadratkilometern befand sich anfänglich vorwiegend in Tschechien. Ihr Gebiet überlappte sich auch mit dem Streifgebiet von Nova, der zweiten Luchsin aus dem Schweizer Jura, und dem Männchen Juno. Bis jetzt habe Alva (leider) keine unwiderstehliche Anziehung auf Juno ausgeübt, sagt Catriona Blum-Rérat. Zumindest gebe es keine Hinweise auf eine Fortpflanzung.
In den ersten Monaten des Jahres 2025 habe sich Nova nun aus dem Einflussbereich von Alva verzogen und lebe nun rund 150 km nördlich von ihr. Alva habe ihrerseits das ehemalige Streifgebiet von Nova übernommen.
Nachträglich festgestellte Krankheit
In der Nacht ihres Transports nach Sachsen wurde Alva von der betreuenden Tierärztin Iris Marti vom Institut für Fisch- und Wildtiergesundheit (FiWi) in Bern (vgl. Kasten) ein zweites Mal Blut abgenommen, um ihren Gesundheitszustand nach der stressreichen Quarantäne zu überprüfen.
Die erneute Laboruntersuchung zeigte, dass Alva mit dem Felinen Leukämievirus (FeLV) infiziert ist. Das Erstaunen war gross, da dieselbe Untersuchung zum Fangzeitpunkt negativ ausfiel. Die Tierärztin nimmt an, dass sich Alva ganz kurz vor ihrem Einfang – womöglich bei einer kranken Hauskatze – ansteckte. Da Leukämieviren mit dem etablierten Testverfahren erst etwa eine Woche nach der Infektion nachgewiesen werden können, wurde die noch ganz frische Infektion anlässlich Alvas Fang nicht erfasst.
Die Befunde wurden RELynx Sachsen gemeldet und empfohlen, Alva nochmals einzufangen, um ihren Krankheitsstaus zu überprüfen. Denn bei dieser Krankheit gibt es drei Verläufe: Progressiv bedeutet, dass die Katze immer noch viele Viren im Körper hat und sie auch ausscheidet. Die Tiere zeigen lange keine Symptome, bis sie irgendwann anfangen zu kränkeln und schlussendlich sterben. Bei der regressiven Variante sind zwar noch Virusteile im Körper, aber es werden keine infektiösen Viren mehr ausgeschieden. Beim abortiven Verlauf schafft es der Luchs mit Hilfe seines Immunsystems, die Viren komplett zu eliminieren. Um in Zukunft Infektionen früher feststellen zu können, haben die Tierärztinnen nun gemeinsam mit den Laborexpertinnen des Tierspitals Zürich ein neues Testregime etabliert.
Das Sächsische Staatsministerium für Energie, Klimaschutz, Umwelt und Landwirtschaft (SMEKUL) hat nach einer sachlichen und rechtlichen Abwägung beschlossen, Alva vorerst nicht einzufangen. Denn sie sehe gesund aus, habe ein dichtes Fell und fresse regelmässig. Es bestehe also die Hoffnung, dass Alva einen regressiven oder sogar abortiven Verlauf zeige.
Ausrottung und Wiederansiedlung
Der Luchs starb in der Schweiz während des 19. Jahrhunderts aus. Die letzte historische Beobachtung erfolgte 1904 beim Simplonpass. Luchse wurden vom Menschen mit verschiedensten Mitteln unerbittlich verfolgt. Zudem war ihre Lebensgrundlage weitgehend zerstört: Die Wälder waren ausgedünnt oder abgeholzt, Beutetiere wie Rehe ausgerottet und die Wiesen durch Nutztiere, insbesondere Ziegen und Schafe, intensiv genutzt.
Mit der Wiederaufforstung und dem Schutz der Wälder sowie der Rückkehr der wilden Paarhufer im 20. Jahrhundert waren die ökologischen Voraussetzungen für eine Wiederansiedlung gegeben. In den 1960er-Jahren gab es vermehrt Bestrebungen einzelner Naturschützer und Forstfachleute, Luchse in der Schweiz wieder anzusiedeln. 1967 fasste der Bundesrat einen entsprechenden Beschluss. 1971 wurde das erste Luchspaar aus den Karpaten (heutige Slowakei) im Kanton Obwalden freigelassen. Weitere Freilassungen (insgesamt ca. 30 Tiere) erfolgten in den Alpen und im Jura. Die Luchspopulationen entwickelten sich in den Nordwestalpen und im Jurabogen ziemlich isoliert, da das Mittelland wie eine Barriere wirkte, was heute noch zutrifft. Zudem sind Luchse standorttreuer als Wölfe.
Aus der Jurapopulation wurden ab 2001 bis 2008 einige Luchse im Rahmen des Projektes LUNO in die Nordostschweiz umgesiedelt, um die Ausbreitung der Art im östlichen Alpenraum zu fördern. In der Schweiz leben heute ungefähr 340 erwachsene Luchse.
Die Überwachung der ausgesetzten Luchse war in den Anfängen kaum möglich. Technische Möglichkeiten wie automatische Wildkameras oder Senderhalsbänder wurden erst später verfügbar. Es war schwierig, einen Überblick zu haben, da auch inoffiziell Tiere ausgesetzt und immer wieder ausgesetzte Tiere gewildert wurden. Es konnten folglich vorwiegend Zu- und Abgänge und Nutztierrisse statistisch erfasst werden. Mit der Gründung von KORA beziehungsweise ihrer Vorläuferorganisation wurden die Luchse wissenschaftlich erforscht und Grundlagen für andere Aussetzungen in Europa erarbeitet.
Genetische Verarmung
Die heutige Schweizer Luchspopulation geht auf wenige Gründertiere zurück, da sich nicht alle der ursprünglich ausgesetzten Tiere fortgepflanzt haben. Es vermehrten sich in der Folge auch nah verwandte Tiere miteinander. Es gab Inzucht und als Folge davon eine starke Abnahme der genetischen Vielfalt des Erbguts. Ausgeprägt ist dies vor allem bei der Alpenpopulation. Viele Tiere haben beispielsweise Herzfehler. Im Jura sind auch schon Tiere mit veränderten Ohren aufgetreten. Seit Jahren wird dieser genetischen Verarmung hohe Beachtung geschenkt. Bei toten Tieren wird systematisch das Erbgut untersucht. Deshalb werden nur Tiere aus der genetisch «fitteren» Jurapopulation nach Sachsen geliefert. Karpatenluchse aus der ursprünglichen Population in Rumänien, Slowakei und Ukraine wären geeigneter, aber der Zugang ist dort aus diversen Gründen schwieriger.
Institut für Fisch- und Wildtiergesundheit
zwy. Das Institut für Fisch- und Wildtiergesundheit (FIWI) an der Universität Bern überwacht und erforscht die Gesundheit einheimischer Wildtiere. Im Auftrag von Bundes- und Kantonsbehörden führt es umfassende Gesundheitsmonitorings durch, fungiert als tierärztliches Kompetenzzentrum für Wildtierfänge und betreibt drittmittelfinanzierte interdisziplinäre Forschung zu Wildtieren. Der Luchs ist seit rund 20 Jahren ein Forschungsschwerpunkt des FIWI. Darüber hinaus beteiligt sich das FIWI seit Jahren aktiv am Fang von Luchsen und übernimmt deren tierärztliche Betreuung, unter anderem im Rahmen des Projekts «RELynx Sachsen».
RELynx Sachsen
zwy. Im September 2022 startete das Projekt «RELynx Sachsen», das als bedeutendes Artenschutzprojekt federführend beim Landesumweltamt Sachsen angesiedelt ist. An diesem Projekt sind das Senckenberg Museum für Naturkunde Görlitz sowie die Professur für Forstzoologie der TU Dresden beteiligt. Ziel ist die Umsiedlung von bis zu 20 Eurasischen Luchsen der Unterart Karpatenluchs (Lynx lynx carpathicus) in sächsische Wälder. Die Tiere kommen als Wildfänge aus der Schweiz sowie aus Luchs-Nachzuchten aus dem Zuchtprogramm der EAZA (European Association of Zoos and Aquaria). Es können aber auch junge Luchse, die ihre Eltern verloren haben, andernorts ausgewildert werden. Bis jetzt wurden fünf Luchse ausgesetzt (zwei Weibchen und drei Männchen).
Ein relativ junger Luchs wurde schon nach kurzer Zeit von einem Lastwagen überfahren. Die Aussetzungen sollen bis 2027 abgeschlossen sein. Die Luchspopulation im Erzgebirge soll zur Vernetzung der deutschen Bestände im Harz (Norddeutschland), Pfälzer Wald (nähe Vogesen), Schwarzwald und Bayrischem Wald beitragen.
KORA – Stiftung für Raubtierökologie und Wildtiermanagement
zwy. KORA ist eine Stiftung mit Sitz in Ittigen/BE, die in der Schweiz für das Monitoring der Grossraubtiere (Luchs, Bär und Wolf) zuständig ist. Darüber hinaus führt KORA zahlreiche wissenschaftliche Projekte zur Erforschung der Auswirkungen von der Rückkehr der Grossraubtiere, des Goldschakals und der Wildkatze auf die Kulturlandschaft durch. KORA berät die Behörden, stellt Informationen zuhanden von Behörden und der Öffentlichkeit bereit und arbeitet in nationalen und internationalen Arbeitsgruppen mit. Zuständig unter anderem für Luchsumsiedlungen und Koordinatorin des Linking Lynx Netzwerks ist Kristina Vogt.