«Ein Zurück hätte Gefängnis und Tod bedeutet»
13.11.2025 ZunzgenMansor (30) wurde in Afghanistan von den Taliban bedroht – und nahm den Weg nach Europa unter die Füsse
Nachdem die amerikanischen Truppen Afghanistan fast fluchtartig verlassen hatten und die Taliban die Macht übernahmen, wurde es für den heute 30-jährigen ...
Mansor (30) wurde in Afghanistan von den Taliban bedroht – und nahm den Weg nach Europa unter die Füsse
Nachdem die amerikanischen Truppen Afghanistan fast fluchtartig verlassen hatten und die Taliban die Macht übernahmen, wurde es für den heute 30-jährigen Mansor gefährlich. Er erzählt von seiner Flucht, die in Zunzgen endete.
Aufgezeichnet von Jürg Dalcher
«Meine Eltern hatten in Faryab, einer ähnlich grossen Stadt wie Basel, ein Teppichgeschäft. Ich besuchte 12 Jahre die Schulen und begann mit 24 Jahren in Kabul ein Jura-Studium. Zu dieser Zeit war in Afghanistan eine zivile Regierung an der Macht. Dank der Unterstützung von Nato-Truppen war ein freies Leben und auch Meinungsfreiheit möglich. Dies galt für Männer und Frauen.
Das änderte sich sehr schnell, nachdem die Taliban im August 2022 wiederum die Macht übernommen hatten.
Zuvor arbeitete mein Bruder auf einer amerikanischen Militärbasis. Beim Abzug der Truppen durfte er mit nach Amerika gehen, wo er weiterhin für das Militär arbeitet. Da ein Familienmitglied für die Feinde der Taliban gearbeitet hatte und ich selber für die Uni-Zeitung und das Radio tätig war, wurde ich nach der Machtübernahme bedroht. Schliesslich musste ich um mein Leben fürchten und da blieb mir nichts anderes übrig, als in den Iran zu flüchten. Mit einem Freund lebte ich dort acht Wochen auf einer Baustelle.
Nachdem mir mein Bruder aus den USA Geld überwiesen hatte, bezahlte ich 1200 Dollar für eine Schlepper-Organisation. Diese brachte mich und neun andere Leute mit einem Personenwagen bis vor die türkische Grenze. Von dort sollten wir zu Fuss in die Türkei gelangen. Doch liefen wir türkischen Zöllnern in die Arme, welche bewaffnet waren. Zwei Freunden und mir gelang es, zu entfliehen und in einen nahen Wald zu entkommen. Es war Winter und es hatte viel Schnee. Erschöpft, hungrig und nass erreichten wir ein Dorf und bekamen von Bewohnern Essen und trockene Kleider. Wir telefonierten mit den Schleppern, die uns an einem Treffpunkt abholten und nach Istanbul fuhren. Bis hierher war die Reise mit ihnen vereinbart worden.
Hier arbeitete ich illegal in einem Restaurant. Der Lohn reichte gerade für mein Essen, schlafen konnte ich bei einem Kollegen. Doch nutzte ich diese Zeit, um Türkisch zu lernen. Ich blieb sechs Monate. In dieser Zeit wurde mir klar, dass ich hier keine Zukunft habe und auch keine Arbeit finden würde, um einigermassen leben zu können. So beschloss ich, zu Fuss nach Europa zu wandern. Es war mir bewusst, dass dies schwierig und gefährlich werden konnte. Doch hatte ich nichts zu verlieren, denn ein Zurück nach Afghanistan hätte Gefängnis und Tod bedeutet. Gleichzeitig war in mir ein starkes Vertrauen, dass ich es schaffen könnte.
So gelangte ich, zusammen mit drei Freunden, unbemerkt nach Griechenland. Wir marschierten drei Wochen lang meist durch Wälder. Kamen wir in ein Dorf, kauften wir Proviant für fünf oder sechs Tage. Wir schliefen in dünnen Schlafsäcken auf dem Boden und gegen den Regen legten wir ein Stück Plastik über uns. Auf diese Weise gelangten wir nach Albanien und weiter über Montenegro, Bosnien, Kroatien, Slowenien bis Italien. Es gab einige Flüchtlings-Camps, dort wurden wir mit dem Nötigsten versorgt.
Vorläufig aufgenommen
Zu Fuss und teilweise mit Bussen benötigten wir für diesen zweiten Teil nochmals drei Wochen. Wir hatten Glück und konnten jeweils immer unentdeckt über die grünen Grenzen gelangen. In Mailand bestiegen wir den Bus nach Chiasso. Von dort durften wir mit dem Zug nach Zürich weiterfahren.
Wir hatten keine Ahnung, wie es hier weitergehen soll, keiner von uns verstand Deutsch. Man wies uns den Weg zu einem Asylzentrum und wir mussten am nächsten Tag weiter ins Bundeszentrum in Basel. Nach 20 Tagen kam ich in das Zentrum in Flumenthal bei Solothurn und später in die Asylunterkunft in Zunzgen. Hier lebten in zwei Wohnungen in einem alten Bauernhaus etwa 20 Leute aus verschiedenen Ländern.
Ich wartete auf meinen Asylentscheid. Ein Leben ohne irgendeine Gewissheit ist schwer, weil man nie weiss, ob man wieder gehen muss. Ich wollte diese Zeit trotzdem nutzen und begann über das Internet für mich allein Deutsch zu lernen. Mir war klar: Wenn man in der Schweiz leben möchte, dann sollte man zuerst die Sprache lernen. Ich erhielt nach 18 Monaten den Asylentscheid für vorläufig Aufgenommene. Dieser Status gilt für jeweils ein Jahr und wird danach wieder neu beurteilt.
Ich bin nun seit drei Jahren in der Schweiz und habe an verschiedenen Orten freiwillig gearbeitet. Dies hat mir sehr geholfen, um die Gewohnheiten und auch Leute von hier kennenzulernen. Zudem konnte ich eine Schnupperlehre bei der Migros und ein Praktikum in einem Altersheim in Allschwil absolvieren. Weil ich den Rotkreuzkurs bestanden hatte, konnte ich am 1. August die Ausbildung als Assistent Gesundheit und Soziales beginnen. Diese Lehre dauert zwei Jahre, doch möchte ich mich danach noch weiterbilden.
Um ein Ziel zu erreichen, wie zum Beispiel eine Lehrstelle zu bekommen, braucht es Geduld. Ein grosser Unterschied zu Afghanistan ist die Pünktlichkeit, hier wird darauf viel Wert gelegt und ich habe das mittlerweile auch gelernt. Ich bin der Schweiz sehr dankbar, dass sie mich aufgenommen und mir eine Möglichkeit zum Leben geschenkt hat. Mit Menschen zu arbeiten macht mir Freude und ich möchte damit auch etwas zurückgeben für die viele Unterstützung, die ich hier erleben durfte.
Jürg Dalcher wirkt bei der Gruppierung «Freiwillige für Flüchtlinge Sissach» mit. Die Serie wird in loser Folge fortgesetzt.

