«Die Stadt ist stolz auf ihre Schreibenden»

  04.07.2025 Baselbiet

Schriftstellerin Rebekka Salm zeigt ihre Wahlheimat

Die in Bubendorf aufgewachsene Rebekka Salm ist ein aufstrebender Stern am Schweizer Literaturhimmel. Sie lebt seit mehr als 10 Jahren in Olten. Während eines Spaziergangs durch ihre Wahlheimat erzählt sie der «Volksstimme», wie sie hier angekommen ist.

Nikolaos Schär

«Nächster Halt: Olten», ertönt es aus den Lautsprechern des Zugs – eine vertraute Durchsage, die wohl jeder Schweizer schon gehört hat. In der Unterführung des Oltner Bahnhofs herrscht geschäftiges Treiben. Täglich schluckt der Verkehrsknotenpunkt Zehntausende von Reisenden – und spuckt sie ebenso schnell wieder aus. Mittlerweile nicht mehr Teil dieser Pendlermasse ist die Schriftstellerin Rebekka Salm, aufgewachsen in Bubendorf, heute wohnhaft in Olten. Seit rund elf Jahren ist die Stadt an der Aare ihre Wahlheimat. Die «Volksstimme» trifft die aufstrebende Autorin an der Aarepromenade, beim Ausgang der Martin-Disteli-Unterführung, zum Stadtspaziergang.

Dass sie in Olten gelandet ist, war eine rein pragmatische Entscheidung, erzählt sie. Damals arbeitete ihr Lebenspartner in Basel, sie selbst in der Erwachsenenbildung der Zürcher Asyl-Organisation. «Olten war praktisch, weil es in der Mitte liegt», sagt Salm. Das ist natürlich eine langweilige Geschichte – meint sie, die sonst in ihren Büchern vor Metaphern nur so sprüht –, aber so ist es halt manchmal, das Leben.

Am Bahnhofsbrunnen posieren einige Touristen vor der Aare, im Hintergrund die Altstadt mit der Holzbrücke
– eine pittoreske Ansicht. Es wirkt, als würden sie zwischen zwei Zügen rasch ein Stück Altstadtluft schnuppern, bevor sie wieder im Bahnhof verschwinden. Noch unentschlossen, wohin uns der Spaziergang führen soll, betrachten wir den Stadtplan. Daran hängt der Startpunkt des Schweizer Schriftstellerwegs, für den Olten unter der Marke «Literatour Stadt» wirbt – ein literarischer Postenlauf, bei dem Oltens Autorinnen und Autoren Geschichten über ihre Stadt erzählen. Franz Hohler und die Kabarettistin Lisa Christ machen hier den Auftakt.

Heimat sind Menschen, die guttun
Salm schlägt vor, zur Postkartenansicht der Stadt zu gehen. Sie blickt Richtung Bahnhof und meint: «Hier hinten gibt’s für Touristen aus dem Baselbiet nicht viel zu sehen.» Die frisch renovierte Uferpromenade, einst ein Treffpunkt der offenen Drogenszene, wirkt heute mit Bar und Liegestühlen beinahe mondän. Auf der alten Holzbrücke begegnen uns Fussgänger und Velofahrer. Vereinzelte Touristen posieren davor, als sei es die Kapellbrücke von Luzern – nur eben im Kleinformat. Ein Bild, das zur Stadt passt, in der abgesehen vom Bahnhof alles überschaubar wirkt. Etwas, das Salm schätzt: «Eigentlich gehe ich immer an die gleichen drei, vier Orte. Ich glaube, dass ‹Heimat› genau das meint: Zwei, drei Orte und Menschen, zu denen man immer und immer wieder geht, weil sie einem guttun. Die habe ich in Olten gefunden.»

Trotz dieser Übersichtlichkeit war der Start in Olten nicht einfach. «Ich war gerade Mutter geworden, sass zu Hause und kannte niemanden.» Der Nebel habe ihr zugesetzt – hatte sie doch zuvor im sonnigen Basel gelebt. Heute kann sie über das Image Oltens als Nebelloch lachen: «Das ist doch mittlerweile ausgelutscht.»

Offen gegenüber Zugezogenen
Wie sich die Baselbieter, deren Dorfmentalität sie in ihren Büchern akribisch seziert, von den Oltnern unterscheiden? Sie überlegt: «Als Zugezogene ist es schwierig, das spezifisch Oltnerische zu erfassen, da ich hier nicht sozialisiert wurde.» Aber sie habe in Olten offene Türen eingerannt. Als Beispiel nennt sie das Projekt «Buch zu Besuch», welches sie mit Nadia Frey 2019 lancierte. Freiwillige bringen mobile Bücherwagen in Alters- und Pflegeheime. «Der gemeinnützige Frauenverein Olten war von der Idee begeistert, sofort dabei und hat viel Geld investiert.» Im Vergleich zum Baselbiet seien die Leute offener: «Der Dünkel ist hier nicht so stark ausgeprägt. Jeder ist willkommen. Vielleicht, weil viele Zugezogene und Pendler hier leben und niemand schon seit Generationen hier sein muss, um sich Oltnerin oder Oltner nennen zu dürfen.» Besonders erinnert sie sich an den Besitzer des Buchladens Klosterberg, Christian Meier. Bei einem Bücherverkauf der Stadtbibliothek vor etwa elf Jahren sprach er sie an, einfach so, als Salm noch niemanden kannte. «Einer meiner ersten Kontakte», so Salm.

Inzwischen sitzen wir vor dem Café Gryffe im Schatten. Zur Linken liegt das Haus der Museen, davor ein Spielplatz. «Hier war ich oft mit meiner Tochter», erzählt Salm. Erst über Kita und Hort habe sie sich in Olten ein soziales Netz aufbauen können. Viele davon seien auch Auswärtige. Kürzlich hätten sie und ihre Freundinnen aus Spass das «Terminus», den einzigen Nachtklub der Stadt, besucht – als Mittvierzigerinnen eine späte Premiere, die jede Oltner Jugendliche schon hinter sich habe.

Nach zwei erfolgreichen Romanen ist Salm heute fest in der Literaturszene verankert. Am Amthausquai hören wir den Text, mit dem sie 2019 einen Schreibwettbewerb gewann – ihr Sprungbrett zum Knapp Verlag, der sich stark für die lokale Literatur einsetzt. Über Alex Capus, mittlerweile ein Freund, gelangte ihr Debüt an den Tisch von Elke Heidenreich, die sich begeistert zeigte. Heute schreibt Salm für den Ullstein Verlag und arbeitet am dritten Buch.

Doch Olten verlassen? Keine Option. Ihre Tochter ist hier verwurzelt. Sie unterdessen auch. Dem provinziellen Charme der Stadt kann sie heute viel abgewinnen: «In Berlin, wo ich eine Zeit lang lebte, wäre ich ob all der vielen Optionen und Möglichkeiten wohl überfordert gewesen. Hier hat es von allem etwas weniger und dennoch genug.» Zwar ziehe es sie beim Schreiben stets ins Baselbiet – aber Olten sei ihr literarischer Aussichtsturm: «Hier bin ich sicher. Von hier aus habe ich einen guten Blick auf die geografischen und menschlichen Landschaften und Abgründe, über die ich schreiben möchte.»

Sie könne sich trotz wachsender Bekanntheit noch immer ungestört bewegen. «Manchmal werde ich erkannt – aber neulich wurde ich im Buchladen Schreiber, da drüben», sie zeigt nach rechts, «nach meinem Namen gefragt...» Noch bewege sie sich im Schatten grosser Namen wie Capus, Hohler oder Pedro Lenz. Aber man kenne sich, grüsse sich auf der Strasse und scherze miteinander, während man mit den Kindern unterwegs ist: «Hey, gerade auch nicht am Schreiben?», sagt Salm lachend.

Die Wetterhexe und der Nebel
Gleich neben dem Café auf dem Kirchplatz wird es lauter. Helferinnen und Helfer wuseln um eine Konzertbühne. Salm zeigt auf einen der Männer: Es ist Roman Wyss, Musiker, Komponist und diesjähriger Träger des Oltner Kulturpreises. Wir bezahlen und spazieren weiter Richtung Hauptgasse. Bei der Abzweigung zum «Oberen Graben» liegt rechterhand der Metzina-Wächter-Platz – benannt nach der legendären Wetterhexe, die einst mit einem Schadenszauber eine Belagerung Oltens durch solothurnische und bernische Truppen abwehrte. Salm arbeitet derzeit an einem literarischen Projekt über diese faszinierende Figur, die als Schutzpatronin der Stadt und zugleich als Feindbild der Obrigkeit galt.

Wenige Schritte weiter begegnen wir Alex Capus, leger gekleidet. Ein kurzer Schwatz. «Warum bist du so braun? Warst du in den Ferien?», fragt Salm. «Ich habe eine Velotour über den Hauenstein nach Bubendorf gemacht. Das Wetter war dort aber auch nicht besser», meint Capus und blickt in den milchigen Himmel. «Ich habe vorhin gerade erzählt, dass das mit dem Nebel langsam ausgelutscht ist», schmunzelt Salm. «Letztens haben die Oltner in einer Facebook-Gruppe gepostet, dass es hier Sonne hatte und im Baselbiet Nebel», entgegnet Capus mit einem Zwinkern und fügt scherzhaft an: «Hier ist es wie mit der Mafia in Sizilien: Wenn du mit dem Nebel kommst ...» Er zieht den Daumen über die Kehle. «Macht ihr noch das obligate Bild bei der Wildsau?», fragt Capus, wo ein Pressefoto geschossen wird, bevor er sich verabschiedet.

Das lose, aber feinmaschige Netz der Oltner Literaturszene verleiht der Stadt eine stille Selbstgewissheit. Warum sich gerade hier so viele Schriftsteller versammeln? «Laut Capus liegt es am Wasser», sagt Salm. Die Preise des Schreibwettbewerbs im Rahmen des Buchfestivals Olten – sie werden in Form eines Fläschchens mit Oltner Trinkwasser verliehen.

Geschichten, die Identität stiften
Ob Olten die Kultur besonders fördert? Salm, die kürzlich den mit 2000 Franken dotierten Förderpreis der Stadt Olten erhalten hat, kann dies bejahen: «Ich habe das Gefühl, dass die Stadt stolz ist auf ihre Schreibenden, und dass die Kulturschaffenden gesehen und wo möglich unterstützt werden.» Was keine Selbstverständlichkeit sei, sagt Salm.

Von aussen wird Olten seit den Zeiten, als es dank der Eisenbahn ein wichtiger Industriestandort war, oft klischeehaft als Stadt im Niedergang beschrieben. Zwar ähnlich gross wie Solothurn, schaut man hier mit einem leichten Minderwertigkeitsgefühl und ein wenig Neid flussaufwärts auf den kulturellen Glanz der Kantonshauptstadt Solothurn. Eine Rivalität, die sich bis heute in Sprüchen und Symbolen zeigt.

Etwa in der Wildschwein-Statue am Brückenkopf der alten Holzbrücke. Einst zeigte sie ihr Hinterteil Richtung Solothurn – ob absichtlich oder nicht, sei dahingestellt. Inzwischen blickt sie wieder nach vorne. Vielleicht ein Zeichen neuer Selbstsicherheit? Man könnte es so deuten. Und wer alle Geschichten entlang des Schweizer Schriftstellerwegs gehört hat, ist beinahe dazu aufgefordert, genau das zu tun.


Die «Volksstimme» stellt in der sechsteiligen Serie «Ein Sommer in Olten» die Dreitannenstadt aus verschiedenen Blickwinkeln vor. Die Beiträge erscheinen im wöchentlichen Rhythmus.


Wie Olten zur Hauptstadt des Kabaretts wurde

nsc. Vom Gürkli zur Gurke – was 1984 als Initiative zur Wiederbelebung des politisch-satirischen Kabaretts begann, ist heute das bedeutendste Satirefestival der Schweiz: die Oltner Kabarett-Tage. Seit 1986 verwandelt sich Olten im Mai für elf Tage in eine Hochburg des scharfen Witzes und der spitzen Zunge.
Im Zentrum steht der renommierte Schweizer Kabarett-Preis Cornichon. Mit 10 000 Franken dotiert und benannt nach dem Ensemble Cabaret Cornichon (1934– 1951), zählt das «Cornichon» – nach dem «Salzburger Stier» – heute zu einer der bedeutendsten Auszeichnungen in der deutschsprachigen Kleinkunstszene. Namhafte Preisträger sind unter anderem Elsie Attenhofer (1988), die Ur-Mutter des politischen Schweizer Kabaretts, sowie Franz Hohler und César Keiser & Margrit Läubli (1990), um nur einige zu nennen. In jüngerer Zeit wurden ausgezeichnet: Andreas Rebers (2021), Mike Müller (2022), Bänz Friedli (2024) und Sarah Hakenberg (2025).
Die ikonische Gurken-Skulptur von Werner Nydegger ziert zudem den «Quai Cornichon», einen «Walk of Fame» entlang des Klostergartens mit karikaturistischen Portraits aller Preisträger.

Doch Olten denkt auch an den Nachwuchs: Seit 2012 findet ein Kabarett-Casting statt, bei dem junge Talente um einen Förderpreis kämpfen, der ihnen bei der professionellen Entwicklung hilft. Ein weiterer Höhepunkt ist die Turmrede auf der winzigen Bühne des Oltner Stadtturms – eine kabarettistische Ansprache, pointiert und öffentlich, zum Abschluss der ersten Festivalwoche.
Mit mehr als 1500 Mitgliedern zählt der Verein zu den grössten Kulturvereinen der Schweiz – und diesen Erfolg lebt Olten jeden Mai aufs Neue: Kabarett aus Olten, für die ganze Schweiz.


Der König von Olten

nsc. Er sass auf den besten Sesseln der Stadt, flanierte durch Beizen und Büros, liess sich bedienen wie ein Ehrenbürger und verschwand, wenn es ihm beliebte. «Toulouse», der schwarz-weisse Kater aus Olten, war vieles – vor allem aber eine Erscheinung. Auch Jahre nach seinem Tod ist er unvergessen. Eine Bronzestatue auf dem Kaplaneiplatz erinnert bis heute an den wohl berühmtesten Vierbeiner der Stadtgeschichte. Mit Krone auf dem Kopf blickt er seither über das Treiben der Altstadt und scheint zu wissen: Die Krone gehört ihm für immer.

Die Geschichte von «Toulouse» wurde 2009 von Alex Capus literarisch verewigt. «Der König von Olten», ein schmales, charmantes Buch über die Eigenheiten eines Kleinstadtkaters, wurde zu einem kleinen Wunder der Schweizer Verlagswelt. Mehr als 40 000 Exemplare wurden seither verkauft – eine Seltenheit für ein Buch mit stark regionaler Verankerung. Der Erfolg trug den Namen Olten weit über die Stadtgrenzen hinaus und verhalf auch dem kleinen Knapp Verlag zu ungeahnter Aufmerksamkeit.
«Toulouse» selbst liess sich von all dem Rummel nie beeindrucken. Er lebte weiter, wie es ihm gefiel. Er ging ein und aus, wo es ihm passte, legte sich in Schaufenster, sass bei Apothekenkunden auf dem Schoss oder tauchte zum Feierabendjass im Beizenstübli auf. Menschen arrangierten sich mit ihm – oder ordneten sich unter. Selbst wer ihn nicht mochte, konnte sich seinem Charisma kaum entziehen.
Im Sommer 2017 kam das Ende. Altersschwach und krank musste der Kater eingeschläfert werden. Doch sein Tod bedeutete nicht das Ende seiner Geschichte. Die Stadt setzte ihm ein Denkmal aus Bronze, Leserinnen und Leser erinnerten sich an ihre Begegnungen mit dem tierischen König, und das Buch wurde weiter verschenkt, gelesen, diskutiert.
Bis heute tauchen in den Gassen und Quartieren Oltens Kater auf, die entfernt an «Toulouse» erinnern. Man gibt ihnen neue Titel – «der König vom Säliquartier» zum Beispiel – und tut so, als würde das Erbe weitergetragen.


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