Während der Weihnachtszeit neige ich dazu, noch mehr zu vergessen als sonst. Womöglich lag es in den vergangenen Tagen aber auch an der hartnäckigen Erkältung, die mich eisern im Griff hielt. Mein Kopf war schwammig, ich hastete von einer Festlichkeit in die nächste, ...
Während der Weihnachtszeit neige ich dazu, noch mehr zu vergessen als sonst. Womöglich lag es in den vergangenen Tagen aber auch an der hartnäckigen Erkältung, die mich eisern im Griff hielt. Mein Kopf war schwammig, ich hastete von einer Festlichkeit in die nächste, trank ein Glas Wein hier und da, und ass viel zu viel Essen, das mir danach schwer im Bauch lag. Über das Geschehene legte sich aber eine angenehme Trägheit, die alles irgendwie noch langsamer werden liess und die Sorgen und Gedanken alle schummrig in den Hintergrund verschwanden.
Vielleicht war das der Grund, weshalb ich am vergangenen Freitag völlig gestresst aus einem Traum erwachte. Darin hatte ich verschlafen und war zu spät zur Redaktionssitzung erschienen. Tatsächlich hätte ich an diesem Tag die Sitzung leiten müssen. Dass es sich am Freitag, dem 26., aber um einen Feiertag handelte, fiel mir erst ein, als ich im dunklen und vereinsamten Büro ankam.
Zwischen Weihnachten und Neujahr scheint das Vergessen ohnehin programmiert, zumindest bei mir. Die Tage verlieren ihre Konturen, fliessen ineinander wie Aquarellfarben auf nassem Papier. Man verliert das Gefühl für Zeit: Ist heute Dienstag? Donnerstag? Hat man noch genug Essen im Kühlschrank? Einkaufen kann man nicht, die Läden sind zu. Die Weihnachtsgutzi liegen schon ganz trocken auf dem Tisch, sodass man sie mit einem Schluck Wasser runterspülen muss.
Es ist eine seltsame Schwerelosigkeit, die über diesen Tage liegt. Draussen wird es früh dunkel, drinnen brennen Kerzen. Irgendwo zwischen Sofa und Kühlschrank verliert man den Überblick. Man trägt denselben Pullover mehrere Tage hintereinander. Man nickt am helllichten Tag auf dem Sofa ein und wacht auf mit dem Gefühl, eine ganze Woche verschlafen zu haben.
Und doch steckt in dieser Orientierungslosigkeit für mich etwas Kostbares. Das ganze Jahr über sind wir getaktet, terminiert, auf die Minute genau organisiert. Zwischen den Jahren dürfen wir all das für einen Moment vergessen. Die Zeit selbst scheint durchzuatmen. Vielleicht brauchen wir diese Tage der sanften Verwirrung, bevor das neue Jahr mit seinen Vorsätzen und Plänen beginnt. Eine kleine Atempause, in der nichts von uns erwartet wird ausser, dass wir da sind – mit schwammigem Kopf, vollem Magen und offenem Hosenknopf.
Der Januar steht vor der Tür und damit gewinnen die Kalender ihre Autorität zurück, Termine stapeln sich, und niemand lächelt mehr nachsichtig, wenn man verschwitzt und verwirrt zur falschen Zeit am falschen Ort auftaucht. Bis dahin aber dürfen wir noch ein wenig in dieser Zwischenzeit verweilen, wo die Tage keine Namen haben und das Vergessen erlaubt ist.
Ich begrüsse das neue Jahr, das für mich und hoffentlich auch Sie schöne Begegnungen und Erlebnisse bereithalten möge.
Melanie Frei, Redaktorin «Volksstimme»