Die Plauderkasse
07.11.2025 PersönlichEs gibt Dinge, von denen man nicht weiss, dass man sie braucht, bis jemand sie erfindet und man dann merkt, man braucht sie wirklich nicht! Oder doch? So auch die Plauderkasse. Ein neues Konzept im Supermarkt für Einsame. Eine Kasse für Menschen, die gerne reden. Auch für jene, die ...
Es gibt Dinge, von denen man nicht weiss, dass man sie braucht, bis jemand sie erfindet und man dann merkt, man braucht sie wirklich nicht! Oder doch? So auch die Plauderkasse. Ein neues Konzept im Supermarkt für Einsame. Eine Kasse für Menschen, die gerne reden. Auch für jene, die gerne viel reden. Also genau für die Leute, wegen denen man sonst extra nicht an die Kasse nebenan wechselt. «Hier dürfen Sie sich Zeit nehmen und plaudern», steht da. Na wunderbar! Ich war neugierig. Schliesslich bin ich seit Jahren darauf trainiert, es an seelenlosen Selfscanning-Kassen möglichst emotionslos piepen zu lassen und dabei mit Pokerface die Karte durch den Schlitz zu ziehen. Jetzt soll ich plötzlich wieder reden. Mit einem Menschen! Freiwillig!
An der Expresskasse scannen 20 Menschen mit chirurgischer Präzision ihre Einkäufe. Also stelle ich mich an die Plauderkasse. Hier steht eine ältere Dame und erklärt die emotionale Bedeutung von Schnittkäse. Der Kassierer nickt verständnisvoll, als wäre er Psychologe, Priester oder bester Freund in Personalunion. Ich schiele auf die Uhr. 8 Minuten für drei Artikel und der Schnittkäse bekommt Brot als Unterlage. Nach 15 Minuten bin ich dran.
«Wie geht es Ihnen heute?» Der Kassierer strahlt. Ich bin völlig überfordert. Wann hat mich zuletzt jemand an der Kasse gefragt, wie es mir geht? Meistens fragt man mich nach Punkten oder «Märkli». Neuerdings auch, ob ich das «Zetteli» will. «Gut», antworte ich. Er nickt tiefsinnig und schaut mir tief in die Augen. «Wirklich? Es sieht aus wie …» Wir waren Freunde. Für exakt 1 Minute und 43 Sekunden. Best Friends! «Danke fürs Gespräch», sagt er mit einem warmen Lächeln. Ich war gerührt. Ich hatte seit Wochen mit niemandem mehr so offen über meinen Tag gesprochen und das alles zwischen Dinkelbrot, Duschgel und Kaffee aus dem Sonderangebot. Ich sammle meine Milch, das Brot und den Käse am Stück, komme aber mit Lebensberatung, Sozialstudie und Minitherapie raus.
Als ich zurückblickte, sah ich die anderen Kunden an den normalen Kassen: gesenkter Blick. Kein Wort. Nur das nervöse Piepsen der Scanner. Und ich? Ich hatte das Gefühl, etwas Besonderes erlebt zu haben. Ich wurde gefragt, wie es mir geht! Die Idee ist ja eigentlich nett. In Zeiten, wo alle aufs Handy starren und ihre Einkäufe per Knopfdruck tätigen, will man wieder echte Gespräche fördern. Auf Deutsch heisst das, ich erfahre alles über quengelnde Enkelkinder, schwerhörige Ehemänner und ungefragte Meinungen zu Königshäusern und deren Skandale in fremden Ländern, während meine Tiefkühlpizza auftaut.
Am Ende verliess ich den Laden leicht traumatisiert, aber emotional bereichert. Und das Schönste: Ich weiss jetzt, dass Frau Meier aus Büsserach schon seit drei Jahren keine anständige Schwarzwälder Torte mehr gebacken hat. Am nächsten Tag stehe ich wieder im Supermarkt. Diesmal kaufe ich nur ein Gipfeli. Ich ging trotzdem zur Plauderkasse. Wenn das kein guter Tag wird, weiss ich auch nicht mehr weiter. «Wie geht es Ihnen heute?»
Claude Lachat ist Schriftsteller, Jahrgang 1963 und wohnhaft in Nunningen. Er arbeitet als Programmleiter von Tandem 50 plus Baselland.

