Die Arithmetik des Alphabets
15.07.2025 Baselbiet«Was? Nicht Naturwissenschaften, sondern Germanistik?», kommentierte mein Mathelehrer nach der Matura meine Studienwahl und schob ein leises «Schade» nach. «Was? Germanistik, nicht Naturwissenschaften», sagte mein Deutschlehrer mit kaum überhörbarem ...
«Was? Nicht Naturwissenschaften, sondern Germanistik?», kommentierte mein Mathelehrer nach der Matura meine Studienwahl und schob ein leises «Schade» nach. «Was? Germanistik, nicht Naturwissenschaften», sagte mein Deutschlehrer mit kaum überhörbarem Entsetzen, «das muss ja zum Glück nicht zwingend in einen Beruf münden, in welchem Sie viel schreiben müssen?»
Das Faible für Zahlen ist mir geblieben. Kaum liefert der Kanton statistische Erhebungen, geraten die Redaktion und ich in Wallung. Wie ein Kind freue ich mich darauf, der Leserschaft erklären zu dürfen, wie sich in Hemmiken die Zahl der Autos mit grossem Hubraum pro Kopf und in Ammel der Bezug von klimaneutraler Wärmeenergie verschoben haben – mit Blick aufs Jahr und im Vergleich zu Tschoppenhof. Wohlwollen schlägt mir aus der Redaktion nur dann entgegen, wenn ihr Stausee mit vergnüglicheren Stoffen ausgetrocknet ist.
So fasziniert mich auch die durchschnittliche Länge der Wörter in Artikeln deutscher Sprache. Naturgemäss fällt dieser Wert in einer Dissertation höher aus als bei «Schneewittchen». Bei mir ergibt die Division von Buchstaben durch Wörter erstaunlich hartnäckig immer die Zahl 6. Die letzten umfangreichen Beiträge, sie handelten von einem Buch über das Baselbieter Musikleben, von der Freiwilligenarbeit in Sissacher Vereinen und – eben – von der jüngsten Bevölkerungsstatistik, ergaben die Durchschnittswerte 6,03, 6,04 und 6,05 Buchstaben pro Wort. Und wäre im letzten dieser Texte nicht so oft von Gelterkinden die Schreibe gewesen, läge der Wert genau bei den beiden anderen.
Faszinierend fand ich auch immer: Schlugen wir einst am Barfi ein städtisches Telefonbuch (wer diesen Begriff nicht kennt, der wende sich bitte an das örtliche Heimatmuseum) in der Mitte auf, so stiessen wir immer auf einen Namen mit M. Mit Müller und Meier in allen Schreibweisen sind da schliesslich auch die Nummern eins und drei der häufigsten Nachnamen des Landes vereint.
Und in anderen Nachschlagewerken? Im Rechtschreibe-Duden aus dem Jahr 1986 liegt zwischen Aachen und Zytode, was ein kernloses Protoplasmaklümpchen sei, die nicht mehr verwendete Mahr. Dem schrecklichen Nachtgespenst begegnen wir heute noch in «nightmare», dem Alptraum der Engländer. Apropos Alptraum: Exakt in der Mitte von Knaurs Lexikon der Weltliteratur stossen wir auf Niccolò Macchiavelli, der den Fürsten ein eigennütziges Regieren ohne ethische Grundsätze empfahl und damit auch 500 Jahre später noch immer grosse Nachahmer findet.
Selbst bei den rund 900 aktuellen und früheren Mitgliedern der Pfadi Liestal, die im Jubiläumsbuch aufgeführt sind, stimmt mit Mohair im Mittelpunkt meine M-Theorie. Sie versagt erst bei meinem Altherrenclub. Die beiden M-Mitglieder, sie heissen tatsächlich Meier und Müller, folgen in der 65 Namen umfassenden Liste erst an 39. und 40. Stelle, als weit nach der Mitte. Das liegt daran, dass die mit B, G und J beginnenden Nachnamen statistisch krass übervertreten sind. Doch je kleiner die Zahlen, umso unzuverlässiger die Statistiken.
Deshalb schnell noch der Griff zum grössten Nachschlagewerk in meiner Reichweite. Es trägt den Namen «Harenbergs Buch der 1000 Bücher», umfasst ohne Vor- und Nachgeplänkel 1180 Seiten und bringt hüllenlos 2,903 Kilogramm auf die Waage. Schlagen wir es nach kurzem Kopfrechnen (Differenz zwischen der ersten und der letzten Seite des Hauptteils; dividiert durch zwei; plus die Seitenzahl der ersten massgebenden Seite) in der Mitte auf, so ist von dem bereits erwähnten Macchiavelli, dem Mann-Clan und Conrad Ferdinand Meier weit und breit noch nichts zu sehen. Man landet in den Gefilden von Luther, Kästner und Keller.
Meine innige Liebe zu Statistiken aller Art ist endgültig erschüttert. Zumal es dieser Text auch nur auf 5,75 statt 6,04 Buchstaben pro Wort bringt. Schuster, bleib bei deinem Schreiben.
Jürg Gohl