«Der Sturm Lothar hat extrem viel verändert»
24.12.2024 BaselbietVor 25 Jahren hinterliess der Orkan auch bei uns ein Bild der Verwüstung
Als man sich der Folgen von «Lothar» gewahr wurde, war die Rede von einer Katastrophe. Im Baselbiet schädigte der Sturm zweimal so viele Bäume, wie man pro Jahr nutzte. Ein Vierteljahrhundert ...
Vor 25 Jahren hinterliess der Orkan auch bei uns ein Bild der Verwüstung
Als man sich der Folgen von «Lothar» gewahr wurde, war die Rede von einer Katastrophe. Im Baselbiet schädigte der Sturm zweimal so viele Bäume, wie man pro Jahr nutzte. Ein Vierteljahrhundert später schauen Waldfachleute differenzierter auf den Jahrhundertsturm zurück und betonen den ökologischen Mehrwert, der entstanden ist.
Andreas Hirsbrunner
Am Stephanstag vor 25 Jahren fegte der Orkan Lothar von Frankreich kommend über die Schweiz, Süddeutschland und Österreich hinweg. Er hinterliess eine Spur der Zerstörung und gilt in der Schweiz als der schwerste Sturm in den vergangenen eineinhalb Jahrhunderten. Seine Geschwindigkeit: 249 Stundenkilometer als Spitzenwert auf dem Jungfraujoch, um die 140 Stundenkilometer bei uns im Flachland. Seine Schadensbilanz: alleine in der Schweiz 750 Millionen Franken im Wald und 600 Millionen an Gebäuden; 14 Menschen starben direkt wegen des Sturms, 15 beim Aufräumen der Schäden. In den beiden Basel knickte oder warf «Lothar» 200 000 Kubikmeter Holz zu Boden, was damals fast einer doppelten Jahresnutzung entsprach.
Das waren die augenscheinlichen Folgen, doch «Lothar» wirkte weit über den Schadenstag hinaus. Kantonsförster Ueli Meier, der zum Zeitpunkt des Orkans Stellvertreter seines Vorgängers Reinhard Eichrodt war, sagt es so: «‹Lothar› hat extrem viel verändert.» Die erste Auswirkung nach dem gröbsten Aufräumen war eine ökonomische – der Holzpreis brach infolge des Überangebots ein. Also wurde nach neuen Holzabsatzmöglichkeiten gesucht, was wiederum den Energiemarkt veränderte. So entstanden in den Folgejahren nach «Lothar» in der Region grössere Holzheizungen, allen voran die Heizzentrale in Liestal und das Holzkraftwerk in Basel, die 2004 respektive 2008 in Betrieb gingen. Parallel dazu stieg in den beiden Basel die Nachfrage nach Energieholz: Vor «Lothar» wurden jährlich zwischen 30 000 und 40 000 Kubikmeter, im letzten Jahr über 90 000 Kubikmeter Holz zu Energieholz verarbeitet.
Im Gegenzug ging der Anteil des Stammholzes, das unter anderem für Bauten und Möbel verwendet wird, zurück und beträgt noch etwas mehr als die Hälfte der vor «Lothar»-Menge (2023: 35 000 Kubikmeter). Dazu Meier: «Stammholz bringt grössere Erträge, ist jedoch aufwendiger zum Bereitstellen. Wenn aber Stammholz wegen der geringeren Gestehungskosten als Energieholz verbrannt wird, ist das aus Sicht der Ressourcennutzung eine Katastrophe.»
Die Gesamtnutzung der Wälder in den beiden Basel für Energie-, Stamm- und Industrieholz ist heute mit 140 000 um fast 30 000 Kubikmeter grösser als vor «Lothar», und der Kantonsförster warnt: «Wir schätzen den jährlichen Holzzuwachs in den Wäldern beider Basel auf 180 000 Kubikmeter. Wir schöpfen ihn damit noch nicht ganz ab. Aber der Zuwachs sinkt wegen der Trockenheit.» Somit sei das «gesunde Potenzial» unserer Wälder als Energieholz erreicht. Die logische Folge für Meier: «Es verträgt keine zusätzlichen Holzheizungen mehr.» Oder sie müssten mit ausserregionalem Holz versorgt werden.
Wald ist ein anderer geworden
Die mit der Klimaerwärmung einhergehende Trockenheit und dabei insbesondere der Sommer 2003, der zweittrockenste seit den Wetteraufzeichnungen, vergrösserte die Auswirkungen von «Lothar». Bereits dieser sorgte mit seinem Holzwurf für einen gedeckten Tisch für den Borkenkäfer. Der Trockensommer 2003 schuf dann schon fast paradiesische Zustände für den Schädling: Er schwächte die verbliebenen Bäume zusätzlich und beschleunigte die Käferentwicklung. Ein Arbeitspapier des Amts für Wald beider Basel von 2004 hält dazu fest: «Aussergewöhnlich ist die erstmals beobachtete gleichzeitige Massenvermehrung aller vier schadenverursachender Borkenkäferarten. Neben dem seit «Lothar» bestens bekannten Buchdrucker richten der Kupferstecher, der grosse Lärchenborkenkäfer und Krummzähnige Weisstannenborkenkäfer grosse Schäden an.»
Das traf allen voran die Fichte und damit jene Baumart, die prozentual schon unter «Lothar» am meisten gelitten hat; rein zahlenmässig sind am meisten Buchen gefallen, weil es von diesem eigentlich Baselbieter Brotbaum mit Abstand am meisten gibt. Dazu Meier: «Generell bieten Nadelhölzer bei Winterstürmen mehr Angriffsfläche als die blattlosen Laubbäume. Wenn Fichten dann noch auf feuchten Böden stehen und dadurch nur flach wurzeln, haben sie wenig Chancen. Das zeigte sich bei ‹Lothar› etwa in Brislach.» Der Buche schadet hingegen vor allem die Kombination von Trockenheit und direkter Sonneneinstrahlung; letztere führt zu Sonnenbränden an den Stämmen. Und weil Buchen nach den von «Lothar» im Wald gerissenen Löchern plötzlich vermehrt der Sonne ausgesetzt waren, stiegen diese Schäden.
Entsprechend setzen Förster mittlerweile vor allem auf wärmeresistente Laubbaumarten. In welche Richtung sich die Baselbieter Wälder bei der Artenzusammensetzung ändern, zeigen die Zahlen des Amts für Wald: Vor «Lothar» betrug der Laubholzanteil 66 und der Nadelholzanteil 34 Prozent des heimischen Waldes. Zwei Jahrzehnte später machte der Laubholzanteil 75 und jener des Nadelholzes nur noch 25 Prozent aus. Die grössten Veränderungen fanden bei zwei Laubholzarten statt: Der Buchenbestand sank von 41 Prozent vor «Lothar» auf 35 Prozent im Jahr 2017, der Ahorn hingegen legte im gleichen Zeitraum von 7 auf 14 Prozent zu. Das sind innerhalb relativ kurzer Zeit massive Veränderungen, wenn man bedenkt, wie träge sich Wälder im Normalfall entwickeln.
Die Natur hilft sich selbst
Die vergangenen Winterstürme, nebst «Lothar» vor allem «Vivian» (1990) und «Wilma» (1995), haben auch noch etwas anderes gezeigt: Ob man die Sturmholzflächen räumt und Jungpflanzungen vornimmt oder ob man die Fläche der Natur überlässt, das Bild unterscheidet sich laut Kantonsförster Meier zwei Jahrzehnte später nicht gross: Etwa gleich grosser Jungwald macht sich breit. Das hätten die Praxis im Kanton Luzern sowie Versuche in Riehen, wo man das Sturmholz liegen liess, und auf der Chrischona, wo man das Sturmholz räumte, aber ebenfalls keine neuen Bäume pflanzte, gezeigt. Meier folgert daraus: «Man darf auch zuwarten und sehen, was die Natur macht. Sie hat auch im Umgang mit Waldschäden eine Lösung.» Wolle man aber eine starke Veränderung der Baumartenzusammensetzung, dann gehe es nicht ohne Pflanzungen.
In einem Bereich spielte «Lothar» dem Amt für Wald beider Basel sogar in die Hände: Der zwei Jahre vor dem Orkan mit dem neuen Waldgesetz eingeläutete Strukturwandel hin zu grösser organisierten Forstbetrieben und damit einhergehend einer professionelleren Waldbewirtschaftung beschleunigte sich.
Bei allem, was «Lothar» anrichtete, betont Meier aber: «Aus Sicht der Ökonomie beziehungsweise der Waldeigentümer sind die Folgen von Stürmen immer Schäden. Aus Sicht der Ökologie hat ‹Lothar› den Wald nicht geschädigt, sondern das Waldbild verändert. Die entstandenen Löcher bieten Lichtbaumarten eine Chance zum Aufkommen und erhöhen die Biodiversität.» Eine Waldverjüngung in diesem Ausmass hätten sich die Förster nie erlaubt, hält Meier fest. Er will deshalb im Zusammenhang mit «Lothar» auch nicht von einem Tiefpunkt in seinem Försterleben reden.
Borkenkäfer ist nicht nur schlecht
Interessant: Ob Kantonsförster, Geschäftsführer des Verbands der Waldeigentümer oder Pro Natura-Fachfrau – die Veränderungen, die «Lothar» verursachte, werden von allen gleich eingeschätzt, nur die Betonungen variieren. So unterstreicht Raphael Häner von Wald beider Basel, der Vereinigung der Waldeigentümer von den Bürgerüber die Einwohnergemeinden bis hin zu den Privatbesitzern, die «wirtschaftliche Katastrophe» infolge von «Lothar». Häner: «Es gab immer wieder Stürme, aber keiner legte insbesondere Fichtenbestände derart grossflächig um wie ‹Lothar›. Damit vernichtete er im Mittelland und im Jura grosse Investitionen, die die Waldeigentümer vor 80 Jahren in Fichten-Monokulturen getätigt hatten.»
Aber auch Häner weint diesen künstlichen Fichtenbeständen keine Tränen nach. Ökologisch gesehen sei die Fichte hier nicht standortgerecht. Natürlich komme sie erst ab einer Höhe von 1000 Metern über Meer vor, je höher, desto häufiger. «Lothar», die Borkenkäfer, aber auch das gewachsene Wissen in Sachen Klimawandel, das 1999 noch nicht so gross gewesen sei, hätten für den heute in den Wäldern beider Basel viel höheren Laubholzanteil als vor dem Orkan gesorgt. Innerhalb seines Verbands habe «Lothar» die Gründung der Holzvermarktungszentrale und damit die Professionalisierung des Holzverkaufs stark beschleunigt, sagt Häner.
Tabea Haupt, Biologin mit Zusatzausbildung in Forstwirtschaft, leitet für Pro Natura Baselland und Aargau das Projekt «Aktion Spechte & Co. AG/BL» und gilt bei den beiden Sektionen als Waldfachfrau. Sie sagt: «‹Lothar› hat im Naturschutzbereich klare Verbesserungen gebracht. So wurden Windwurfflächen zum Teil sich selbst überlassen, was für Dynamik im Wald sorgte und für die Natur einen grossen Mehrwert brachte.» Die sich selbst überlassenen Flächen hätten zu einer natürlichen Waldverjüngung mit mehr Artenvielfalt gesorgt. Solche Naturverjüngungen seien auch stabiler, weil nur an die Gegebenheiten angepasste Pflanzen aufkämen.
Und der Borkenkäfer, der sich nach «Lothar» stark vermehrt und der Waldwirtschaft zusätzliche Schäden bereitet habe, sei aus Sicht Naturschutz gar nicht so schlecht: «Dank ihm gibt es viel Totholz, und das schafft neue Lebensräume, unter anderem für Spechte, Fledermäuse und Pilze.» Den Baselbieter Förstern stellt Haupt ein gutes Zeugnis aus: «Alle, mit denen ich bis jetzt Kontakt hatte, sind offen für den Naturschutz.» «Lothar» hat also nicht nur in den Wäldern, sondern auch in den Köpfen viel bewegt.