Der schüchterne Rebell aus Zeglingen
01.07.2025 BaselbietVor 100 Jahren ist der Schriftsteller Heinrich Wiesner geboren worden
Dank der Fürsprache des Pfarrers durfte der Zeglinger Bauernbub Heinrich Wiesner das Lehrerseminar in Schiers besuchen. So wurde er Lehrer in Liestal, Augst und vor allem in Reinach. Doch sein feines Gespür ...
Vor 100 Jahren ist der Schriftsteller Heinrich Wiesner geboren worden
Dank der Fürsprache des Pfarrers durfte der Zeglinger Bauernbub Heinrich Wiesner das Lehrerseminar in Schiers besuchen. So wurde er Lehrer in Liestal, Augst und vor allem in Reinach. Doch sein feines Gespür für Sprache hatte früh eine andere Leidenschaft geweckt: Er wurde Schriftsteller und hinterliess ein reiches Werk.
Urs Buess
Die Berge sind Schafe, die liegen mit wolligen Rücken. Sie äsen im lautlosen Mittag. Auf allen Wegen liegt Schlaf. Es schläft das Gehöft in den Hügeln. Im Dunst träumt die Ferne. Der Weih nur, saumselig, schreibt Kreise ins Blautuch des Himmels. Ein Turm misst die Viertel der Zeit.
«Jurasommer» heisst dieses Gedicht. Heinrich Wiesner hat es in den 1950er-Jahren geschrieben. Er war damals Lehrer in Reinach, so um die 30 Jahre alt, hatte bereits einen ersten Lyrikband veröffentlicht und arbeitete an weiteren. Schlicht und unspektakulär wie die Aussicht über die Ebene des Tafeljuras kommen die «Jurasommer»- Zeilen daher – sie folgen dem Blick auf die Hügel in der Ferne, auf den Wisenberg, den Bölchen, auf die Höhen rund um den Passwang; ein abstraktes Gemälde, in dem die Erhebungen wie Schafrücken aussehen. Und irgendwo sind ein Bauernhof und ein Weg angedeutet. Das Gedicht ist mehr als ein Gemälde: Man glaubt das Rauschen des Weihs in der Sommerhitze zu hören und die Uhr vom Kirchturm.Vielleicht ist es die Kirche von Kilchberg, deren Glockenschläge Heinrich Wiesner auf der gegenüberliegenden Talseite, auf dem kleinen Hofgut Ried in Zeglingen, als Knabe und Jugendlicher jeweils gehört hat.
Dort ist er am 1. Juli 1925 zur Welt gekommen. Eine kleinbäuerliche Welt voller Entbehrungen, mit einem Vater, der nebenher in der Gipsgrube arbeitete oder anders gesagt: mit einem Steinbrucharbeiter, der nebenher einen kleinen Hof bewirtschaftete; mit einer Mutter, die im Hintergrund zum Rechten schaute, wann immer es nötig war, und nötig war es immer dann, wenn der Vater sich davon machte und seinen übergrossen Durst in der Dorfbeiz oder sonst wo löschte. Die Mutter organisierte dann einen Nachbarn, der die Kühe molk, der kleine Heinrich brachte die Milch ins Dorf und musste anschliessend in den Wirtshäusern nach dem Vater suchen, um ihn zu bitten, nach Hause zu kommen. Das tat weh und demütigte.
Nachruf auf den Vater
Viele Jahre später würdigt Heinrich Wiesner seinen verstorbenen Vater im Buch «Der Riese am Tisch». Dieser hatte im Ersten Weltkrieg als Mitrailleur das Gotthardgebiet und das Tessin kennengelernt, war sonst aber nicht gross in der Welt herumgekommen und fühlte sich in seiner Zeglinger Welt dennoch als Mann von Welt. Unbeholfen, etwas grobschlächtig, kein böser Mensch zwar, nur einer, der bei saurem Wein oder Most immer wieder vom harten Leben ablenken musste und seiner Familie das Leben schwer machte. Ohne Larmoyanz lässt Wiesner die Welt seiner Kindheit und Jugend vorbeiziehen.
Eine Welt, aus der ihn der Pfarrer herausholte. Zwischen zwei Zigaretten erklärte der Geistliche dem jungen Heinrich nach einem Gottesdienst, er werde dafür sorgen, dass er ans Lehrerseminar im bündnerischen Schiers gehen könne, da ihn der Vater sonst an die Wand drücke.
Am Lehrerseminar erlernte Wiesner nicht nur die Kniffe der Pädagogik, sondern entdeckte auch sein Gespür für die poetische Kraft der Sprache. Engagiert unterrichtete er nach der Ausbildung zuerst vier Jahre lang in Liestal in einem Heim für «schwererziehbare Kinder», wie es damals hiess, dann – nach einer kurzen Tätigkeit in Augst – ab 1950 in Reinach. Gleichzeitig widmete er sich seiner zweiten Leidenschaft: Er begann Gedanken, Beobachtungen und Eindrücke in kurze Formen zu fassen, schrieb Verse, die er im schmalen Band «Der innere Wanderer» 1951 bei den Bücherfreunden Basel veröffentlichen konnte.
Das Heranwachsen in der herben Vorkriegswelt auf dem kargen Baselbieter Hofgut und später im bigotten Umfeld des evangelischen Schierser Seminars hatte seinen Sinn für Ungerechtigkeiten, Widersprüche und Verlogenheiten dieser Welt geschärft. Ein Revoluzzer wurde er nicht, aber alles liess er sich dann doch nicht bieten. Als Junglehrer im damals stockkatholischen Reinach beharrte er trotz der Angriffe des örtlichen Priesters darauf, die Turnstunden in kurzen Hosen abzuhalten und nicht in einem Trainingsanzug, der seine nackten Beine vor der Schuljugend züchtig verdeckt hätte. Er war der erste protestantische Lehrer in Reinach, und manche Leute prophezeiten ihm keine lange Bleibe im Dorf. Doch er lernte Annelis kennen, heiratete 1962, bezog ein Haus in einer Reinacher Siedlung und wurde 1967 Vater einer Tochter.
Knappe, klare Sprache
Als Schriftsteller blies er nicht ins laute Horn. Neben den lyrischen Arbeiten, die 1958 mit dem eingangs wiedergegebenen «Jurasommer» im Gedichtband «Leichte Boote» erschienen, arbeitete Wiesner daran, seine Betrachtungen zum Zustand der Welt in Kürzestbotschaften zu komprimieren. Nein, ein Revoluzzer war er nicht, aber ein hintergründiger Rebell. Für seine «Lakonischen Zeilen» fand er keinen Schweizer Verlag. Er musste nach München ausweichen, wo der renommierte Piper Verlag das schmale Werk 1965 herausgab. Viele dieser Zeilen sind weiterhin bedenkenswert: «Diktatur ist die erdrückende Mehrheit einzelner.» Oder: «Evolution. Vom Urmenschen zum Uhrmenschen.» Dann: «Die grossen Veränderungen der Welt wurden durch Grosse bewirkt. Die grössten durch Wahnsinnige.» Und weiter: «Die Medaille hat eine Kehrseite. Die Kugel viele.»
Einzelne Literaturkritiker sahen im Baselbieter einen geistigen Nachfahren des Philosophen Georg Christoph Lichtenberg (1742 – 1799), der sich mit seinen ironischen Aphorismen unsterblich gemacht hatte. Man lobte Wiesners knappe, klare Sprache, die Prägnanz, die in der Kürze liege. Andere schnödeten, solche Sätze könne doch jeder. Eben nicht! Stunden- bis jahrelang habe er manchmal an seinen Zeilen geschliffen, «bis die Satzmelodie stimmt. Jedes Wort muss an seinem Ort sein und alle Vokale müssen richtig verteilt werden», hielt Wiesner den Nörglern entgegen.
In den Sätzen ging es aber nicht nur um Satzmelodien, sondern immer auch um Inhalte. In wenigen lapidaren Worten entlarvte er Ungerechtigkeiten dieser Welt, in der Gesellschaft, in der Schule. Er kritisierte kirchliche Heuchelei, hinterfragte immer wieder die Institution Schule, grübelte darüber nach, wie sie kinderfreundlicher gemacht werden könnte, wollte die Notenpflicht abschaffen – und er war ein Pazifist.
Militaristen waren ihm ein besonderer Gräuel: «Einem nackten Hohen sieht niemand den Hohen an. Erst die Uniform erhöht ihn. Einem nackten Soldaten sieht niemand den Soldaten an. Erst die Unform macht ihn zum Soldaten, macht ihn uniform. Erst die Uniform erniedrigt ihn. Einem nackten Menschen sieht man den Menschen an. – Bloss, die Welt lässt Nacktheit nicht zu.»
Diese Kürzestgeschichte ist in seinem ebenfalls in München herausgegebenen Band «Lapidare Geschichten» zu lesen. Die «Neue Zürcher Zeitung» druckte Wiesners Kurzprosa in loser Folge ab, auch im «Nebelspalter» erschienen immer wieder Werke von Wiesner. Der «Nebelspalter» war damals noch kein rechtspolitisches Erzeugnis, sonst hätte Wiesner dort kaum publiziert. Er trat der «Gruppe Olten» bei, einer Vereinigung linker Schriftsteller und Schriftstellerinnen. Und als linke Kreise in Basel 1970 den Lenos-Verlag gründeten, war Wiesners «Rico, ein Fall» eines der ersten Bücher, das dort erschien. Ausser bei Lenos veröffentlichte er in der Folge auch im Zytglogge-Verlag und bei Diogenes.
Immer am Schreibtisch
Heinrich Wiesner war ein unermüdlicher Schreiber. Mehr als zwei Dutzend Werke hat er neben seinem Lehrerberuf geschrieben. Aphorismen, Gedichte, Kurz- und Kürzestgeschichten, Romane («Die würdige Greisin»), ein Theaterstück für das Basler Theater («Der Jass»), Kinderbücher («Iseblitz. Der Waldfuchs, der zum Stadtfuchs wurde»), Jugendromane (drei Bände über «Jaromir» bei den Rittern, im Mittelalter und bei den Mammutjägern) sowie eine Chronik, die zu seinen wohl eindrücklichsten Veröffentlichungen gehört. «Schauplätze» heisst die Chronik. Sie ist 1969 erschienen und beschreibt in bisweilen fast schmerzhafter Art, wie sich Wiesners Umfeld in Zeglingen und später im Lehrerseminar Schiers in den dunklen Vorkriegs- und Kriegsjahren zum Nazi-Reich in Deutschland verhielt.
Es wird niemand angeklagt, niemand verurteilt, Wiesner berichtet lapidar und lakonisch, nimmt sich nicht aus, wenn er die scheinheilige Unschuld der Schweizer beschreibt: «Ich habe gewusst, dass man Tausenden Zuflucht geboten hat. Aber ich habe nicht gewusst, dass man Tausende an der Grenze zurückgewiesen oder wieder ‹ausgeschafft› hat. Obwohl ich gelegentlich davon gelesen habe.»
Auch wenn er sich rege mit Zeitfragen und Vorgängen in der weiten Welt befasste, so blieb seine engere Heimat, das Baselbiet, doch immer im Zentrum seines Schaffens. «In allne Büecher isch dr Hintergrund s’Baselbiet», gab er in einer Semesterarbeit einer Gymnasiastin zu Protokoll.
Diese Semesterarbeit, verfasst um 1994 von einer gewissen Silvia Egli, bewahrt Wiesners Witwe auf. Darin ist auch Heinrich Wiesners melancholischer Satz zu lesen: «Es gitt mi im Baselbiet eigentlich nitt.» Offenbar spürte er in seiner Heimat zu wenig Wertschätzung für sein schriftstellerisches Schaffen – dies, obwohl er 1980 den Literaturpreis des Kantons Baselland erhalten hat. Von der Schweizerischen Schillerstiftung, von der Stiftung Pro Helvetia und von Radio Beromünster war er schon früher mit Preisen ausgezeichnet worden.
Ein Einzelgänger
Der Literaturkritiker Valentin Herzog, der freundschaftlich mit Wiesner verbunden war, bestätigt, dass er dann und wann geäussert habe, er gelte nicht viel im Literaturbetrieb. Herzog führt das darauf zurück, dass Wiesner ein eher zurückgezogenes Schriftstellerleben geführt habe. Er sei ein Einzelgänger gewesen, eher schüchtern und habe es als Makel empfunden, keinen akademischen Hintergrund zu haben. Nach Lesungen sei er gern zusammen mit Freunden zusammengesessen, habe sich durchaus eingebracht, aber nie das grosse Wort geführt.
Im Alter von fast 94 Jahren ist der Zeglinger Bauernbub Heinrich Wiesner am 27. Februar 2019 in Reinach gestorben. Mit einer Lesung von Ausschnitten aus verschiedenen Werken wird die neugegründete Literarische Gesellschaft Baselland am 30. Oktober 2025 im Gewölbekeller der Gemeindeverwaltung Reinach seines hundertsten Geburtstags gedenken.