Der Dirigent an der Orgel
22.12.2023 NiederdorfOrganist Brunetto Haueter spielt an der Münsterorgel in Basel
«Man kann vom Allerfeinsten, vom Allerinnigsten, bis zum Hochdramatischen und fast nicht mehr Aushaltbaren alles hervorzaubern aus solch einem Instrument», sagt Brunetto Haueter. Gemeint ist die Orgel, und ganz ...
Organist Brunetto Haueter spielt an der Münsterorgel in Basel
«Man kann vom Allerfeinsten, vom Allerinnigsten, bis zum Hochdramatischen und fast nicht mehr Aushaltbaren alles hervorzaubern aus solch einem Instrument», sagt Brunetto Haueter. Gemeint ist die Orgel, und ganz besonders die Orgel im Basler Münster.
Brigitte Keller
An der Orgel im Basler Münster mit ihren 78 Registern begleitet der Organist aus Niederdorf gegenwärtig mehrere Gottesdienste. Er hätte gar noch öfters eine Vertretung übernehmen können, wenn er denn nicht schon anderweitig im Einsatz wäre. Der «pensionierte» Organist Brunetto Haueter (71) ist gefragt wie eh und je, worüber er sich sehr freut. «Im Moment mache ich immer noch Fortschritte, denn ich kann mir endlich reichlich Zeit zum Üben nehmen.»
Die Orgel wird nicht zu Unrecht die «Königin der Instrumente» genannt. Doch für Haueter ist eine Orgel noch viel mehr. Für ihn ist sie das Idealbild von individuell und gemeinschaftlich zugleich. «Jedes Register hat seinen eigenen Klang, der voll gültig ist und für sich alleine stehen kann. Und gleichzeitig passen alle auch zusammen, vertragen und ergänzen sich.» Dieses Wunder könnte als Vision für die ganze Menschheit dienen.
Das Spielen auf der Orgel betrachtet Haueter als «Brückenbauen». «Bei meiner Aufgabe als Musiker habe ich immer das Gemeinsame gesucht und es immer als verbindende Aufgabe aufgefasst.» Musik habe für ihn keine Konfession, sie sei weder katholisch noch reformiert, sie sei viel mehr, vereinend, umfassend. Er wollte mit der Musik dienen, um heilend in die Welt hinein zu wirken, und nicht, um als Musiker Karriere zu machen. «Wenn ich ein Oratorium aufführe und die Tränen sehe, die es auslöst, dann ist es wahrscheinlich gelungen.»
Wie die Orgel ins Leben trat
Wie wird ein Mann zu solch einem Verehrer und Fürsprecher für die Orgel und deren Musik? Sein Grossvater war ein Verdingkind im Bernbiet gewesen und sein Vater sei mit nicht mehr als fünf Franken in der Tasche «in die Welt hinaus» geschickt worden. Zusammen mit seiner Frau habe er sich dann in Chur niedergelassen und sich dort eine Existenz aufgebaut. «Ich staune, was er für einen Weg gemacht hat», sagt Haueter beim Blick zurück. «Als junger Bursche ist mein Vater zufällig in ein Konzert mit Musik von Bach geraten und ist hin und weg gewesen.» Ab da habe sein Vater davon geträumt, eine Hausorgel zu besitzen und darauf spielen zu können.
Die eigene Orgel musste noch warten, aber ein Harmonium wurde im Hause Haueter angeschafft. Sohn Brunetto kann sich auch noch lebhaft erinnern, wie ihn sein Vater als «kleinen Bengel» an Hauptproben in der Kirche in Chur mitgenommen hat, wo er dann, weil noch zu klein, nicht über die Empore zum Orchester, Chor und den Solistinnen und Solisten schauen konnte, sondern zwischen den Stäben hindurchspähte.
Der Primarschüler Brunetto wurde dann ab der 2. Klasse in die von Lucius Juon gegründete Churer Singschule geschickt. 1965 vermochte der Vater seinen Wunsch zu erfüllen und liess sich eine Hausorgel bauen. Die Liebe zur Musik und dazu, was sie alles sein und erreichen kann, wurde Brunetto Haueter also bereits in jungen Jahren mitgegeben. Es ist diese Orgel, bald sechs Jahrzehnte alt, die heute im Einfamilienhaus in Niederdorf steht und an welcher der Organist täglich ein paar Stunden übt.
Als es um die Berufswahl ging, entschied sich Haueter für das Bündner Lehrerseminar. Einerseits hatte man, so seine Überlegung, nach dessen Abschluss bereits einen Beruf und gleichzeitig ein Diplom, das einen zum Studium berechtigte, und andererseits – für den jungen Mann mindestens so wichtig, wenn nicht noch wichtiger – die Möglichkeit, als obligatorisches Instrument das Klavier und die Orgel zu wählen. Und dort passierte etwas, das einen entscheidenden Einfluss hatte auf seinen weiteren Werdegang: Ohne den entsprechenden Aufbau – richtige Haltung von Körper und Händen, richtige Atmung und Artikulation – und durch übermässiges Üben spielte sich der angehende Lehrer die Hände «kaputt». Schmerzen stellten sich ein, kaum habe er gespielt.
Geplatzter Traum
Der Traum, nach dem Lehrerseminar ein Musikstudium zu beginnen, war damit erst einmal ausgeträumt. Zu jener Zeit war Musik das Einzige, so Haueter, was ihm im Leben Halt gab. Kein Arzt konnte ihm helfen. Ein schwerer Schlag. Es habe ihn in eine existenzielle Krise gestürzt in den darauffolgenden zwei Jahren. Es war die Zeit, wo er sich intensiv mit den Schriften von Friedrich Nietzsche befasste. «Ich war begeistert, wie er alles verwarf und trotzdem am Leben blieb.» Viele Jahre später, als er wieder einmal Lucius Juon getroffen hat, habe er zu ihm gesagt: «Weisst du, Lucius, du hast nicht nur die Musik in mir geweckt, du hast mir das Leben gerettet.»
In dem Moment, als er sich mit dem Schicksal abfand, sei die Musik nach und nach wieder auf ihn zugekommen. «Fast unfassbar für mich», gesteht er. Aber der geplatzte Traum mit dem Musikstudium nagte im Stillen weiter an ihm. Dann, im Alter von 35 Jahren, verheiratet und Vater von zwei kleinen Töchtern, bewarb er sich mit der Unterstützung und Ermunterung seiner Frau an der Akademie für Schul- und Kirchenmusik (heute Musikhochschule) in Luzern für das Chorleiter- und Dirigentenstudium.
Jetzt oder nie
Die Aufnahmeprüfung bestand er, doch man wollte ihn infolge seines Alters nur das «B-Studium» absolvieren lassen. Doch da hatte man die Rechnung ohne den unbändigen Drang des Bündners gemacht, der sich nicht mehr abbringen lassen wollte. Nachdem er das «B-Studium» in der Hälfte der regulären Zeit abgeschlossen hatte, wurde er doch noch zum vollwertigen «A-Studium» zugelassen. «Diese Zusage ist für mich ein unglaublicher Moment gewesen.» Und glücklicherweise hatte er zwischenzeitlich auch das Problem mit den Händen lösen können – dank der Hilfe eines Arztes sowie der nunmehr richtigen Spielweise unter Anleitung eines versierten Lehrers.
Ein weiterer Traum ging bald darauf in Erfüllung. Obwohl «erst» am Anfang des Studiums, hatte er das Glück, unter zahlreichen Bewerbern für die Leitung des Engadiner Kammerchors gewählt zu werden. «Ich bin eine Woche lang wirklich im siebten Himmel gewesen, als die Zusage kam», sagt Haueter rückblickend. Vor seinem inneren Auge sah er sich wieder an der Empore stehend, durch die Stäbe runterschauend. Nie hätte er als «kleiner Bengel» geglaubt, dass er eines Tages selber da unten stehen würde als Zeremonienmeister von Chor, Orchester und Solisten.
Mit 42 Jahren wagte er den Sprung aus Graubünden in die Region Basel. Den Engadiner Kammerchor behielt er aber noch fünf weitere Jahre, was für die Proben jeweils zwei sechsstündige Zugfahrten und eine Übernachtung im Oberland bedeutete. Und laufend bildete er sich weiter und besuchte Meisterklassen, so bei der bekannten Schweizer Dirigentin Sylvia Caduff und danach auch noch bei der versierten, aus Ungarn stammenden Professorin Olga Geczy sowie in zahlreichen Meisterkursen für Orgel.
Beruflich ergab sich alles fast wie von alleine. Er wurde an die Sekundarschule Waldenburgertal in Oberdorf als Musiklehrer geholt und als Hauptorganist an die Dorfkirche in Riehen gewählt. Beiden Wirkungsstätten blieb er über zwanzig Jahre bis zur Pensionierung treu.
Vielseitige Wirkungsstätten
Auch nach der Pensionierung waren seine Dienste sehr gefragt. Den Singkreis Bezirk Affoltern am Albis leitet er nunmehr ebenfalls seit 20 Jahren, auch ist er Leiter des «Voci Appassionate», eines kleinen Chors aus hoch motivierten Sängerinnen und Sängern. Gemeinsam treten die beiden Chöre dann jeweils in drei grossen Kirchen im Raum Zürich auf.
Auch seine Dienste als Organist sind in verschiedenen Kirchgemeinden weiterhin sehr gefragt, nun gar mehrfach als Vertretung des auch international tätigen Hauptorganisten Andreas Liebig im Basler Münster. Die dortige Orgel wurde vor zwanzig Jahren neu gebaut, verfügt über 78 Register auf vier Manualen und ist eine der vielseitigsten Orgeln der Region.
«Vielseitig» bedeutet auch, dass derjenige, der an der Orgel sitzt, massgebend dafür ist, wie ein Werk klingt. Grosse Organisten wissen vieles über die verschiedenen Stile und Kompositionen und über das, was Tradition ist. Und dann suchen auch sie manchmal nächtelang nach dem am besten klingenden Zusammenspiel der einzelnen Register. Ein und dasselbe Werk an derselben Orgel wird immer wieder anders klingen, je nach Registrierung und Gestaltung des Organisten. Der Organist wird zum Dirigenten der Orgel.
Gottesdienste in der Region mit Brunetto Haueter an der Orgel: Samstag, 23. Dezember, 16.30 Uhr, Münster, Basel; Sonntag, 24. Dezember, 10 Uhr, Münster; Sonntag, 25. Dezember, 10 Uhr, Kirche St. Peter, Oberdorf; Samstag, 30. Dezember, 16.30 Uhr, Münster, Basel; Samstag, 30. Dezember, 18 Uhr, ök. Kirchenzentrum Romana, Augst; Sonntag, 31. Dezember, 10 Uhr, kath. Kirche, Pratteln.