Der Dichterpfarrer von Waldenburg
05.12.2025 Porträt, BaselbietErinnerungen an Jacques Senn (1883–1971)
Wenn man die grossen Namen der Baselbieter Literatur aufzählt, taucht er heute kaum noch auf – und doch gehört er dazu: Carl Jacques Senn, Pfarrer, Erzähler und Sprachkünstler. Ein Autor, der die Reformationszeit so ...
Erinnerungen an Jacques Senn (1883–1971)
Wenn man die grossen Namen der Baselbieter Literatur aufzählt, taucht er heute kaum noch auf – und doch gehört er dazu: Carl Jacques Senn, Pfarrer, Erzähler und Sprachkünstler. Ein Autor, der die Reformationszeit so lebendig schilderte wie ein verschollenes Original aus dem 16. Jahrhundert.
Hanspeter Gautschin
Geboren wurde Jacques Senn am 1. Januar 1883 in Liestal – mitten in jenem kulturellen Boden, aus dem so viele Baselbieter Dichter hervorgingen. Seine Schulzeit verbrachte er im alten Städtchen, das Humanistische Gymnasium in Basel legte das geistige Fundament für seine späteren Werke. Doch entscheidend war die stille Kraft seiner Mutter, deren Feinfühligkeit in ihm schon früh den Wunsch weckte, Pfarrer zu werden. So studierte er Theologie in Basel und Tübingen und wurde 1907 ordiniert.
Seine erste Pfarrstelle erhielt er in der kleinen Schaffhauser Gemeinde Buchberg-Rüdlingen – ein abgelegener Ort, der ihm Ruhe und Zeit gab, zum Dichter zu reifen. Dort entstand sein erstes grosses Werk: «Chronica des weiland Reiterknechts Ambrosi Schwerter» (1919). Senn veröffentlichte es anonym, und es geschah das Aussergewöhnliche: Die Sprache war so echt, so kraftvoll und so tief in der Reformation verwurzelt, dass selbst ausgewiesene Historiker das Buch zunächst für ein authentisches Dokument aus dem 16. Jahrhundert hielten. Der bekannte Literaturkritiker Otto von Greyerz lobte es überschwänglich und stellte Senn in eine Reihe mit Pestalozzi und Gotthelf.
Kraft, die er nicht hatte
1919 kehrte Senn ins Baselbiet zurück und übernahm die Pfarrstelle Waldenburg-St. Peter, zu der auch Oberdorf, Niederdorf und Liedertswil gehörten. Eine weite, anspruchsvolle Kirchgemeinde, die er mit grosser Treue und Sorgfalt versah. In dieser Zeit entstand sein zweites grosses Werk: «Die Gottesnot zu Euggarus» (1925), ein historischer Roman von dichterischer Innigkeit und sorgfältiger Quellenkenntnis. Wie er daneben seinen vollen seelsorgerlichen Dienst versah und gleichzeitig ein Werk solcher Tiefe schaffen konnte, bleibt beeindruckend. Vielleicht suchte er in seinen Figuren jene Kraft, die sein sensibler und oft von Krankheit belasteter Körper nicht immer hatte.
Doch Jacques Senn war nicht nur Schriftsteller: Er war ein Pfarrer, der Menschen erreichte. Sein Unterricht war kein Ritual, sondern eine Begegnung. Jahrzehntelang erzählten Menschen aus dem Tal davon, wie anschaulich er Glaubensfragen vermittelte und wie er in den jungen Menschen geistige Neugier weckte – darunter auch mein eigener Vater, der noch Jahrzehnte später davon sprach, wie spannend und eindrücklich diese Unterrichtung für ihn gewesen war. Senn verfügte über jene seltene Gabe, Glauben so zu vermitteln, dass er im Alltag der Jugendlichen lebendig wurde.
Seine literarische Tätigkeit setzte er unbeirrt fort. 1930 erschien «Frau Orsola Sempieri», eine Sammlung südlicher Geschichten voller Wärme und Leichtigkeit, ganz anders als seine früheren Werke. Senn zeigte damit, dass er nicht nur historische Stoffe beherrschte, sondern auch das feine Erzählen des Alltäglichen.
Kirchlich blieb er ein Mann des Engagements. 1933 wählten ihn seine Amtsbrüder zum ersten Dekan des neu geschaffenen Pfarrkapitels Liestal-Waldenburg. Und 1940, gemeinsam mit Hans Gysin und Karl Sandreuter, veröffentlichte er eine Mundartübertragung biblischer Texte – «Dr guet Bricht us dr Bible uf Baselbieterdütsch» – ein Werk, das bis heute zeigt, wie sehr ihm Sprache und Volk verbunden waren.
Bekannte Freiheitsgeschichte
Nach seiner Pensionierung 1947 zog Senn nach Liestal zurück. Doch verschwand er nicht in der Stille: Zur Einweihung des Ueli-Schad-Brunnens in Oberdorf schrieb er 1953 ein kleines Festspiel, das noch einmal seine erzählerische Gabe zeigte und an jene Freiheitsgeschichte erinnerte, die im Baselbiet tief verankert ist.
Am 26. April 1971 wurde Jacques Senn in Liestal zu Grabe getragen.
Mit ihm ging der letzte Vertreter einer literarischen Generation, die das geistige Selbstverständnis des Baselbiets entscheidend prägte – mit feiner Sprache, historischer Tiefe.
Heute ist Jacques Senn fast vergessen. Doch wer seine Werke liest, erkennt schnell: Er war ein Mann, der Glauben erzählte statt belehrte. Einer, der Sprache lebendig machte. Und ein Pfarrer, der Menschen berührte – oft im Stillen, aber nachhaltig.
Vielleicht ist es Zeit, ihn neu zu entdecken.
Künstler, Dichter, Macher und Visionäre
vs. In unserer Serie stellt Hanspeter Gautschin Menschen aus dem Oberbaselbiet vor, die einst prägend wirkten, heute aber fast vergessen sind. Es sind Künstlerinnen, Dichter, engagierte Macherinnen, stille Visionäre – ebenso wie Unternehmer, Tüftler und Gestalter der Industriewelt, die mit Innovationsgeist und Tatkraft die Entwicklung unserer Region vorantrieben. Persönlichkeiten, die das kulturelle, soziale, geistige, sportliche oder wirtschaftliche Leben des Oberbaselbiets nachhaltig geprägt haben. Mit erzählerischem Gespür und einem feinen Blick für das Wesentliche lässt Gautschin diese Lebensgeschichten wieder aufleuchten – als Erinnerung, Inspiration und als Beitrag zur regionalen Identität. Hanspeter Gautschin (1956) lebt in Oberdorf und blickt auf eine facettenreiche Laufbahn im Kulturbereich zurück. Als ehemaliger Impresario, Kulturförderer und Museumsleiter erzählt er mit Vorliebe Geschichten über Menschen, Kultur und das Leben im Alltag.

