Das Gehirn fördert Prototypen
11.12.2025 Gesellschaft«Wir sind doch alle Prototypen» war ein Ausspruch eines Kollegen bei einer Diskussion über das Verhältnis untereinander. Er hat recht, dachte ich. Wenn wir die Entwicklung eines Menschen überdenken und das Wissen über den Einfluss der verschiedensten Umstände ...
«Wir sind doch alle Prototypen» war ein Ausspruch eines Kollegen bei einer Diskussion über das Verhältnis untereinander. Er hat recht, dachte ich. Wenn wir die Entwicklung eines Menschen überdenken und das Wissen über den Einfluss der verschiedensten Umstände mit einbeziehen, dann wird bald klar, dass jedes Individuum seinen eigenen Weg geht.
Zuerst werden wir durch das Erbmaterial der Eltern bestimmt, denn der gesamte Gensatz wird von beiden Seiten beigesteuert. Sogar eineiige Zwillinge haben zwar viele gemeinsame Merkmale und Eigenschaften, aber sie werden nie identisch sein. Man nimmt an, dass aus der Palette der beiden vereinigten Genvorgaben eine relativ zufällige Verteilung der später wichtigen wirksamen Gene abläuft, wie etwa bei der Vergabe eines riesigen Kartenspiels, einer Lotterie gleich.
Das nachfolgende Zusammenspiel der Gene in der Entwicklung ist ebenfalls komplex und hängt erst noch von äusseren Umständen ab. Die Umwelt und die Ernährungssituation prägen mit. Wichtige Phasen in der Entwicklung des Einzelnen sind das Säuglingsalter und die frühe Jugend. Dort werden die Nervenzellen in einer enormen Geschwindigkeit verknüpft, je nach äusseren Ansprüchen oder durch die Betreuung und Förderung von Mitmenschen, auf die man in diesem Alter stark angewiesen ist.
Das Kind lernt, sich immer vielfältiger zu bewegen, ein Instrument zu spielen, Fahrrad zu fahren, saugt wie durch Osmose die Sprachen, die im Umfeld gesprochen werden, auf. Es fügt sich im Kollektiv ein, je nach Nische, in die es geboren wurde. Regeln und kulturelle Normen werden adaptiert. Die Wirkung einer guten Betreuung während dieser Zeit hält lange an, aber auch Traumen oder Missbrauch in diesem Alter hinterlassen oft lebenslange Spuren.
Die eingespielten Verknüpfungen können abgeändert und durch neue ersetzt werden, aber alte Erinnerungen wirken dennoch weiter. Diese Fähigkeit des Nervensystems, sich ständig zu verändern, nennt sich «Neuroplastizität», und diese hält bis ins hohe Alter an, nicht mehr so flexibel wie in der Jugend, da sich Gepflogenheiten und spezielle erlernte Fähigkeiten kristallisiert haben und schwieriger zu ändern sind. Die Individualität, das Kollektivverhalten und die sozialen Normen werden bereits früh geprägt.
Religiöse oder politische Erziehung ist am wirksamsten in dieser Zeit, das wissen auch ihre Protagonisten. Wie ein Schwamm nimmt in dieser Zeit das Gehirn gesprochene und unausgesprochene Regeln des Sozialen auf. Tiefe lernbegierige Nervennetzwerke mit komplexen Verbindungen bilden sich in dieser Jugendzeit. Seine Netzwerke ständig umzuformen, Fehler zu korrigieren, Neues dazuzulernen, Widersprüche und Ungereimtheiten zu beseitigen oder auszuhalten sind Fähigkeiten, die dem Menschen gegeben sind. In der Jugend bilden sich aber auch Mechanismen im Gehirn, die zu Sexismus, Rassismus und anderen Formen der Diskriminierung führen. Hautfarbe, ungewohntes Verhalten, fremde Sprache und andere kulturelle Strukturen erzeugen Misstrauen, Angst und Ablehnung bis hin zu Aggression. Stress, Depression und psychische Krankheiten, wie etwa der zunehmende Narzissmus, verstärken diese Eigenschaften.
Das Selbstbewusstsein
Die beschriebene Vielfalt der Wege, die ein Gehirn in seiner Entwicklung einnimmt, deutet darauf hin, dass es keinen typischen Menschen geben kann. Jeder lebt in seiner eigenen Wahrnehmungskammer. Eine wichtige Rolle bei der Individualität spielt das Bewusstsein, ein Phänomen, das seltsam mit dem Lebendigen zusammen auftritt. Für den Menschen typisch formt es sich im Laufe des Lebens vor allem als Selbstbewusstsein. Sprache und Schrift, die Erinnerungen festhalten können, spielen dabei eine wichtige Rolle. Durch Lob, Förderung, Anerkennung, Auszeichnung und Unterstützung wird es aufgebaut. Wir sind stolz, wenn wir gewinnen oder etwas erreichen, nehmen an Wettbewerben teil, streben Lebensziele an – und dennoch bleibt das Selbstbewusstsein brüchig: Unfälle, Erkrankungen, Entlassungen, Pensionierung, Arbeitslosigkeit, Beleidigungen, Misstrauen, Erfolglosigkeit, Behinderung oder Missgeschicke können es im Nu zugrunde richten.
Worte wirken beim Aufbau, aber auch bei dessen Zerstörung. Lügen, Falschaussagen, Falschdarstellung, Verunsicherung durch Angsterzeugung, heute im Internet ungebremst möglich, lassen uns alleine, weshalb wir oft Unterschlupf in Gruppen von Gleichdenkenden suchen. Aber so, wie keiner in uns hineinsehen kann, wissen wir auch nicht, mit wem wir uns einlassen, und der Geltungsdrang von unzähligen Prototypen steht jedem Einzelnen gegenüber. In einem funktionierenden Internet wurden sogenannte Sprachmodelle entwickelt, die Daten dieser Prototypen sammeln, unabhängig von deren Nischenherkunft, geistigem Hintergrund, Fähigkeiten, Absichten etc. Aus dieser Suppe wird mit statistischen Methoden (und unglaublich hohem Energiebedarf) versucht, eine «Künstliche Intelligenz» zu erzielen.
So kann heute jeder, wenn er will, Formulierungen bestellen, die er selbst nie hätte schaffen können, eindrucksvoll in den meisten Fällen. Man profiliert sich, versucht, mehr aus sich zu machen, als man ist. Aber ist man dabei wirklich intelligenter geworden? Wenn jemand sich nicht vorher mit dem Inhalt oder dem Zusammenhang des Ergebnisses aktiv auseinandergesetzt hat, zeigt es kaum eine Wirkung. Umgekehrt, wenn eine Idee oder ein Plan im Individuum selbst herangereift ist und dies von einem Sprachmodell begutachtet oder korrigiert wird, dann kann eine Lernsituation entstehen. Man sollte aber bedenken, dass dies eigentlich die Meinung und ein statistischer Abgleich von eben diesen Milliarden von Prototypen ist, die von Menschenhand nach unterschiedlichsten Vorstellungen und Absichten programmiert und ausgewertet wurden.
Wenn ich sehe, wie viel Geld in eine angeblich heilvolle Zukunft gesteckt wird, wird es mir ungemütlich. Im Gegensatz zur Möglichkeit des Menschen, aus Erfahrungen zu lernen, Fehler einzusehen und zu korrigieren, haben Sprachmodelle bisher versagt, eingeschlichene oder vorsätzliche Fehlinformationen, Lügen, verfehlte Entwicklungen und Ungewolltes zu korrigieren. Ehrgeiz, Selbstbewusstsein, Konkurrenz, aber auch eigene Ziele von Nationen oder politischen und religiösen Organisationen spielen eine Hauptrolle, wenn es darum geht, sich durchzusetzen. Es wird wahrscheinlich nur durch etwas zu bändigen sein, was Philosophen als «Humanismus» bezeichnen. Menschlichkeit in Form von Fähigkeiten, Ehrlichkeit, Würde, Vernunft und Verantwortung sind die Anforderungen, die dabei erfüllt sein sollten. Ein steiniger Weg, wie es scheint.
Max Handschin

