Das Gedächtnis im Lauf der Jahre
09.11.2023 RegionMachen wir zuerst ein Gedankenexperiment: Was geschähe, wenn Ihr Gedächtnis plötzlich weg wäre? Die Sprache, die Sinnesempfindungen, das Denken wären noch vorhanden, aber die Erinnerung verschwunden. Auf alles Gelernte, auf ihre Erfahrungen, auf das Vergangene ...
Machen wir zuerst ein Gedankenexperiment: Was geschähe, wenn Ihr Gedächtnis plötzlich weg wäre? Die Sprache, die Sinnesempfindungen, das Denken wären noch vorhanden, aber die Erinnerung verschwunden. Auf alles Gelernte, auf ihre Erfahrungen, auf das Vergangene könnten Sie nicht mehr zugreifen.
Wie würden Sie sich fühlen? Wie würden Sie erklären, wer Sie sind? Sie wären überfordert bei allem, hätten keine Ahnung von Ihrer eigenen Person, hätten keine Bezugspunkte.
So verstehen Sie, wie wichtig Ihr Gedächtnis ist. Es liefert alles aus der Vergangenheit. Wirklich alles? Ist das Gehirn wie die Festplatte eines Computers, die alles speichert? Was ist bekannt über die Speicherung von Erfahrenem, Erlebtem, Geschehenem?
Man unterscheidet zwei Arten von Langzeitgedächtnis. Ein Teil ist das sogenannte semantische Gedächtnis, welches das Gesamtwissen speichert: Fakten, Begriffe, Bedeutungen. Das zweite, das episodische Gedächtnis, hält die gesammelten Erlebnisse fest. Wie man sich vorstellen kann, werden beide Gedächtnisteile ständig erweitert, da wir immer Neues dazu lernen und erleben. So kommen immer neue Aspekte hinzu, die mit einem Begriff gebündelt oder sogar einem einzelnen Ereignis zusätzlich angehängt werden.
Im Gehirn findet ein ständiger Wandel statt mit riesigen detaillierten Schaltkreisen, die sich gegenseitig verbinden, aber auch wieder lösen. Entsprechend ist das Gefühl selbst ebenfalls ständig im Wandel begriffen. Das Gedächtnis jedoch macht daraus ein einziges ununterbrochenes Selbstgefühl, unsere Identität. Auch wenn Sie sich vielleicht mit den Überzeugungen der jungen Jahre nicht mehr in allen Fällen identifizieren können oder sich auf alten Fotos kaum mehr erkennen, haben Sie das Gefühl, immer dieselbe Person gewesen zu sein.
Es sind jene Funktionen des Gehirns, die sich vom Computer unterscheiden. Es sind Netzwerke, die sich ständig umbauen, zum Teil verstärken, wenn sie oft gebraucht werden, abgebaut oder reduziert werden, wenn auf sie verzichtet werden kann.
Die Übertragung in den Schaltkreisen geschieht elektrisch, aber auch biochemisch und wird durch Eiweisse verstärkt oder wieder aufgehoben, sodass eine eigene Dynamik auf vielen Ebenen entsteht. Die Erinnerung an einen einzelnen Begriff kann an verschiedenen Orten stattfinden. So kann das Wort «Sand» gleichzeitig mit Kies, Meer, Ferien, Spanien, Sturm, Sandburg und so weiter als Erinnerung abgelegt sein und je nachdem bei einem dieser Stichwörter auftauchen und wieder aufgerufen werden.
Gleichzeitig kommen die damals entstandenen Gefühle ebenfalls wieder zum Vorschein. Einem Computer diese komplexen Zusammenhänge und Erfahrungen beizubringen, ist nicht möglich, weil ihm unter anderem die Sinnesempfindungen und die Emotionen fehlen und er Nuancen nicht bemerkt. Dieser ständige Umbau und die Integration von Neuem, aber auch das Reduzieren von nicht Gebrauchtem führt dazu, dass die Erinnerungen ungenauer werden, je weiter sie zurückliegen.
Versucht man, sie zu aktivieren und erzählt man von den «guten alten Zeiten», so geschieht es häufig, dass Vergessenes mit Ähnlichem aufgefüllt wird, Unsicherheiten mit Wahrscheinlichem ausgeschmückt und damit eine neue Geschichte zusammengestellt wird, die einleuchtet und in sich stimmt. Würde man das Erzählen einer Erinnerung mit dem Ablesen einer Karteikarte vergleichen, auf der dieses Ereignis festgehalten war, so ist die Geschichte nach dem Schildern verändert und sie muss neu geschrieben werden, bevor die Karte zurückgesteckt wird.
Ergänzungen oder Kommentare durch den Zuhörer, aufgefüllte Unsicherheiten, ausgelassene Teile, die aktuell nicht mehr im Trend liegen oder peinlich sind, werden verändert, weggelassen oder verzerrt, und zwar jedes Mal, wenn dieselbe Erinnerung abgerufen wird. Eine andere wichtige Erkenntnis ist, dass eine beobachtete Szene zwei verschiedene Erinnerungsanteile erzeugt, nämlich wie sich die Szene abgespielt hat (wortwörtlich) und was sie für uns bedeutet. Diese beiden Anteile werden in vielen Fragmenten an verschiedenen Orten im Gehirn separat gespeichert. Entsprechend werden sie auch getrennt, gemeinsam oder vereinzelt abgerufen. Man nennt dies Assoziationen.
Das kann dazu führen, dass wir den Namen einer Person noch wissen, aber nicht mehr, wie sie auf uns gewirkt hat oder umgekehrt. Einleuchtend ist, dass dabei Anteile vergessen oder überschätzt werden und deshalb fehlerhafte Erinnerungen entstehen. Diese potenziellen Irrwege sind nicht tragisch, weil es diese Assoziationen sind, die unser Erinnerungssystem so wertvoll machen. Ohne Assoziationen wären wir nicht so anpassungsfähig und kreativ, denn sie machen einen typischen Anteil der menschlichen Intelligenz aus.
Erinnerungen aus früheren Zeiten sind der Massstab für Leistungen, die man sich immer noch zutraut, vielleicht nicht in vollem Umfang, aber vom Gefühl her noch machbar. Dabei kommt es oft zu einer Selbstüberschätzung. Kraft, Ausdauer und Geschicklichkeit stossen an Grenzen, die man nicht erwartet hat. Oder wird zum Beispiel die selbst eingeschätzte Merkfähigkeit des Gehirns geprüft, wie lange oder wie viele Wörter jemand sich auf die Dauer merken kann, sind die tatsächlichen Resultate regelmässig enttäuschend. Man ist vielleicht überzeugt, eine lange nicht gebrauchte Fremdsprache noch gut zu beherrschen und doch fehlen zunehmend die Worte!
Lebenslang freut sich das Gehirn stets auf Neues. In der Mode wird ständig Gewohntes durch Neues ersetzt, die Architektur schafft Moderneres, technische Neuerungen faszinieren, neue Beziehungen werden gesucht. Neue Informationen verändern die früheren Erinnerungen. Sogar vertraute Kenntnisse werden durch unablässig neu hinzu gekommene Informationen verfälscht, überdeckt, auf- oder abgewertet.
Trotz all dieser Unsicherheiten, Ungenauigkeiten und Veränderungen hilft uns eine mächtige, schwierig zu definierende, übergeordnete Gedächtniskontrolle das Wichtige und Verlässliche so zu nutzen, dass wir im Alltag bestehen können.
Der Schweizer Schriftsteller Max Frisch hat in seinem Werk «Gantenbein» eine literarische Zusammenfassung unserer Gedächtnisentwicklung geschrieben: «Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er, oft unter gewaltigen Opfern, für sein Leben hält oder eine Reihe von Geschichten, die mit Namen und Daten zu belegen sind, sodass an ihrer Wirklichkeit, scheint es, nicht zu zweifeln ist. Trotzdem ist jede Geschichte, meine ich, eine Erfindung.» Die Hirnforschung bestätigt seine Ansicht.
Max Handschin