Chronist mit unbestechlichem Gedächtnis
07.06.2024 Bezirk Sissach, Oltingen, PorträtHans Dähler feiert am Sonntag seinen 100. Geburtstag
Seit 100 Jahren lebt der Jubilar an der Hauptstrasse 24 in Oltingen. In dieser Zeit hat er sich unter anderem immer wieder für die Allgemeinheit eingesetzt. Prägend ist sein unerschöpfliches Gedächtnis, das ...
Hans Dähler feiert am Sonntag seinen 100. Geburtstag
Seit 100 Jahren lebt der Jubilar an der Hauptstrasse 24 in Oltingen. In dieser Zeit hat er sich unter anderem immer wieder für die Allgemeinheit eingesetzt. Prägend ist sein unerschöpfliches Gedächtnis, das ihm auch heute noch erlaubt, Ereignisse vergangener Zeiten abzurufen.
Heiner Oberer
Schwierig für den Unterländer, den Eingang zum Haus von Hans Dähler-Gerber (99) an der Hauptstrasse 24 in Oltingen zu finden. Aber der Hausherr hat die Hilflosigkeit des Schreibenden bemerkt und kommt ihm gemächlichen Schrittes in seinen Hausfinken entgegen. Mit einem verschmitzten Lächeln und starkem Händedruck begrüsst er mich. Das stattliche Haus, das Dähler seit 100 Jahren bewohnt, hat Friedrich Buess-Buess, Dählers Grossvater mütterlicherseits, im Jahr 1893, das beim Kauf eine Brandruine war, für 300 Franken gekauft und wieder aufgebaut.
Hans Dähler – sein Sohn Hanspeter bewohnt das Parterre – wohnt im ersten Stock, was tägliches Treppensteigen bedeutet. Bedächtig geht er die hölzerne Treppe hoch und bittet ins Wohnzimmer. Die Wände sind voll mit Bildern von Dählers drei Kindern, den vier Gross- und elf Urgrosskindern. «Ja», sagt er, «in 100 Jahren kommt halt schon einiges zusammen.» Und wieder das verschmitzte Lächeln. Wir setzen uns an den Stubentisch, wo schön geordnet unzählige Fotoalben, Bundesordner, Zeitungsausschnitte und handschriftliche Notizen bereitliegen. Hans Dähler hat sich vorbereitet. Und er liebt die Ordnung.
Am 9. Juni 1924 kommt Hans Dähler im Haus Nr. 24 zur Welt. Sein Vater stammt aus Seftigen im Kanton Bern. Der Vater findet Arbeit beim Bau der Hochspannungsleitung. In Oltingen lernt er seine zukünftige Ehefrau Marie Buess kennen. Nach der Heirat ziehen die beiden in das Haus an der Hauptstrasse 24. Sohn Hans wächst zusammen mit einer jüngeren und einer älteren Schwester in einfachen Verhältnissen auf. «Wir konnten keine grossen Sprünge machen», sagt er. Die Mutter habe, wie üblich in dieser Zeit, mit Posamenten entscheidend zum Familieneinkommen beigetragen.
Schulkinder als Sargträger
Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs geht für Hans Dähler die obligatorische Schulzeit in Oltingen zu Ende. An ein Erlebnis kann sich Dähler noch heute erinnern: «Drei Drittklässlern und mir wurde aufgetragen, den Sarg eines verstorbenen dreijährigen Knäbleins auf den Friedhof zu tragen. Ein Ereignis, das mich bis heute nicht loslässt. Eine Tragödie.» Nachdenklich fährt sich Dähler mit der Hand über den Kopf. So, als wolle er die Erinnerung an das traurige Ereignis aus seinem Gedächtnis tilgen. Es wird ganz ruhig in der Wohnstube, und diese Stille wird nur unterbrochen durch das Schlagen der Wanduhr und das Schnauben eines Pferdes, das im gegenüberliegenden Hof unruhig im Gatter hin und her trabt.
Nach einer Weile fährt Dähler weiter mit dem Erzählen. Während des Kriegs – der Vater musste einrücken, im Stall und in der Scheune hatten Soldaten Quartier bezogen – ist es für ihn unmöglich, eine Lehrstelle zu finden. Wie aber der Zufall so spielt, kann der tatenfrohe Mann eine Stelle als Bäcker-Ausläufer in Binningen antreten. Mit dem Velo und vollbepackter Hutte am Rücken absolviert er jeweils am Morgen fünf Touren und liefert das bestellte Brot aus. Am Nachmittag heisst es, die Backstube wieder auf Vordermann zu bringen. «Die Arbeit war streng und ich bin am Abend todmüde ins Bett gefallen», sagt Dähler.
Nach einer kurzen Pause, in der man spürt, wie sehr ihn die Kriegszeit geprägt hat, fährt er fort, wie ihn die heulenden Sirenen in Binningen beeindruckten, die vor einem möglichen Fliegerangriff warnten. «Ich bin in der heilen Welt in Oltingen aufgewachsen und plötzlich sah ich mich mit dem Krieg konfrontiert. Bei Alarm wurden wir geweckt und mussten zum Schutz so schnell wie möglich den Keller aufsuchen», sagt er. Ende November 1940 sei er wieder nach Oltingen zurückgekehrt. Mitte Dezember sei Binningen dann irrtümlicherweise bombardiert worden.
Täglich ein Glas Wein
Um sich der Vergangenheit für einen kurzen Moment etwas zu entledigen, fragt Dähler nach, ob man sich nicht ein Glas Wein genehmigen wolle. Man will. Stösst an und das verschmitzte Lachen kehrt in Dählers Gesicht zurück. «Nach Möglichkeit trinke ich jeden Tag zum Mittagessen ein Glas Wein», sagt er. Das Mittagessen, das er sich wenn immer möglich selbst zubereitet. Nachdem die Erzählungen der «struben» Zeiten, wie Dähler sagt, etwas in den Hintergrund rücken, erzählt er weiter. Wie er einige Zeit, für 45 Rappen Stundenlohn, in der Eisenund Stahlwarenfabrik in Sissach Beschäftigung fand. Aber Dähler wollte mehr. Im März 1941 beginnt er bei Hans Schneider in Gelterkinden eine dreieinhalbjährige Lehre als Möbelschreiner, die er erfolgreich abschliesst.
Am Jodlerabend in Lausen im Jahr 1949 lernt Dähler seine zukünftige Ehefrau, Elisabeth Gerber, kennen. Elisabeth habe mit zwei «Melchterli» und in Berner Tracht mit dem Jodlerklub auf der Bühne stehen müssen, sagt er, da sei für ihn die Sonne aufgegangen. Ein Jahr später, am 1. Juli 1950, werden die beiden in der Kirche in Oltingen von Pfarrer Niedermann getraut. «Ich habe schon nach dem ersten, eher zufälligen Zusammentreffen mit Elisabeth gespürt: Sie ist die Richtige», sagt Dähler. Den beiden werden drei Kinder, Vreni, Hanspeter und Ruth, geschenkt.
Der Oltinger erinnert sich an Ferien mit den Kindern oder nachdem diese flügge geworden waren, an Reisen mit der Firma Sägesser ins Südtirol, nach Südfrankreich, in den Bayerischen Wald oder ins Burgund. Auf die Frage, ob er je in einem Flugzeug gesessen sei, sagt er: «Geflogen bin ich nie, höchstens auf die Nase.» Da ist er wieder. Der Schalk, der den 99-Jährigen so sympathisch erscheinen lässt.
Wahl in den Gemeinderat
Auch beruflich sind wieder Veränderungen angesagt. Dähler kehrt auf Bitten seines ehemaligen Lehrmeisters in den Lehrbetrieb zurück, dem er bis 1967 die Treue hält. Am 19. Juni 1967 tritt Hans Dähler als Magaziner in die Dienste der EBL ein und wird Ende Juni 1989 als Stellvertreter des Magazinchefs pensioniert.
Neben Familie und Beruf spielt die Politik im Leben Dählers eine wichtige Rolle. Im November 1971 wird er in den Oltinger Gemeinderat und vier Jahre später, mit 98 von 115 Stimmen, zum Gemeindepräsidenten gewählt. Ein weiteres, einschneidendes Ereignis fällt in die 17-jährige Amtszeit von Dähler: Bei den Aushubarbeiten für die Mehrzweckhalle rutscht die Kantonsstrasse ab. «Über den vom kantonalen Heimatschutz aufgezwungenen Standort der Mehrzweckhalle war ich, und mit mir zahlreiche Oltinger, nicht einverstanden. Wir hatten uns die Halle weiter unten, gegen die Kirche, gewünscht», sagt er. Leider habe man nicht auf sie gehört. Das Ganze nimmt doch noch ein gutes Ende und die Mehrzweckhalle wird im Jahr 1979 mit einem grossen Fest eingeweiht.
Eine andere Reminiszenz bringt Dähler wieder zum Schmunzeln. Im Jahr 1951 sieht sich sein Götti gezwungen, das Geschäft als Oltinger Dorfcoiffeur altershalber aufzugeben. Auf Bitten seines Göttis übernimmt Hans Dähler, nach einer Schnellbleiche, das Schneiden der Haare und das Rasieren der Oltinger Bärte. «Ich könnte Bücher darüber schreiben, was ich da alles vernommen habe, Wahres und Unwahres», sagt er. Nun. Auch diese Episode sei eine Lehre fürs Leben gewesen.
Neben dem Frisieren bleibt Zeit für zahlreiche weitere Aktivitäten zum Wohle der Allgemeinheit. Anlässlich des Jubiläums «700 Jahre Eidgenossenschaft» verfasst Dähler im Jahr 1991 ein Büchlein mit Blick auf die Oltinger Geschichte. Dafür hat er tief in den alten Gemeindeprotokollen gegraben und von Hand die unterschiedlichsten Begebenheiten notiert.
Viele Jahre ist Dähler im Vorstand des Verkehrs- und Verschönerungsvereins Gelterkinden und Umgebung. Er setzt sich als «Sägemeister» für den Erhalt der im Jahr 1825 in Betrieb genommenen Oltinger Säge ein. Zu Beginn der 1960er-Jahre wird er Präsident der neu gegründeten «Arbeitsgemeinschaft für Natur und Heimat Oltingen».
Als Präsident der Schulpflege setzt er sich unter anderem für eine Zentralheizung fürs Schulhaus ein. Das stösst nicht überall auf Begeisterung. Im Jahr 1969 ist es aber dann so weit. Die Holzöfen in den Klassenzimmern sind Vergangenheit.
Fest in der Turnhalle
Am 18. Dezember 2014 stirbt die Ehefrau von Hans Dähler. Die beiden waren 60 Jahre verheiratet und haben zusammen immer an der Hauptstrasse 24 gewohnt. «Im Juli durften wir noch die diamantene Hochzeit feiern», sagt Dähler. Ganz unerwartet habe aber ihr Herz vier Monate später aufgehört zu schlagen. Jetzt wird es wieder ganz still in der Wohnstube. Man spürt, wie schmerzlich der Verlust für Hans Dähler auch heute noch ist. «Das Leben geht weiter und man muss ‹vürssi› schauen.»
Am 9. Juni steigt in der Oltinger Turnhalle das Geburtstagsfest zu Ehren des 100-jährigen Hans Dähler. Einem Urgestein von einem Mann, in beneidenswerter körperlicher und geistiger Verfassung und mit einem Gedächtnis, das ihm noch immer erlaubt, Ereignisse vergangener Zeiten aus dem Stegreif zu schildern. Oder wie Max Weitnauer zum 95. Geburtstag in der «Volksstimme» so treffend geschrieben hat: «Hinter seiner Einfachheit und seiner lebenslang bewahrten humorvollen Gelassenheit versteckt sich eine profilierte, charaktervolle und selbstsichere Persönlichkeit.»
Dem gibt es nichts hinzuzufügen.