Bekannte Gesichter …
12.09.2025 PersönlichEs geschieht immer wieder: Man spaziert ohne etwas zu denken durch die Stadt oder steht an der Kasse und plötzlich – zack! – fällt der Blick auf ein scheinbar bekanntes Gesicht. «Den kenne ich doch!», denkt man voller Überzeugung. Die Stirn runzelt sich, der ...
Es geschieht immer wieder: Man spaziert ohne etwas zu denken durch die Stadt oder steht an der Kasse und plötzlich – zack! – fällt der Blick auf ein scheinbar bekanntes Gesicht. «Den kenne ich doch!», denkt man voller Überzeugung. Die Stirn runzelt sich, der Blick klebt am armen Menschen, der vermutlich einfach nur seine Brötchen kaufen will. Und dann beginnt das innere Theaterstück: Ist das der Typ von der Tankstelle? Wohnt der im selben Quartier oder ist das der Bruder, von dem immer behauptet wird, seine Schwester hätte ein Verhältnis mit genau diesem Typen gehabt?
Wir alle kennen es: Ab einem gewissen Punkt starrt man beinahe so penetrant, dass man gezwungen ist, zu lächeln. Und dann lächelt diese Person auch noch zurück. Jetzt ist man gefangen im Roulette der Namen. Denn wer zurück lächelt, muss ja jemand Bekanntes sein. An dieser Stelle würde ich von Ihnen gerne wissen, wie Sie sich aus diesem Dilemma stehlen.
A propos bekannte Gesichter: Nicht, dass ich jetzt Alzheimer hätte, aber ich wette, Ihnen geht es genauso. Zumindest manchmal. Auf der Geburtstagsparty sind wir gezwungen – und das auch nur, weil so wenige Gäste anwesend sind oder wir zu früh sind – jeden Einzelnen zu begrüssen, mit Namen. Mit Handschlag! Ein Raum, drei Gäste! Kaum gedacht, schon beginnt das soziale Stolpern. Ich schiebe meine Frau vor in der Hoffnung, sie kennt die Namen. Funktioniert nicht immer, auch nicht das Danebenstehen in der Erwartung, dass jemand den Namen ausspricht.
Einfach nur Hallo sagen geht in diesem Fall nicht. «Na, altes Haus!» hört sich bescheuert und sehr Deutsch an, zumindest in der Schweiz. «Na Du!» hört sich noch bescheuerter an und «Hallo» hat nicht viel Stil. Mein Favorit: «Das ist aber eine schöne Überraschung, Dich hier zu sehen», und ehe der bekannte Unbekannte reagieren kann, einfach herzlich umarmen. Tun Sie es allerdings nicht, wenn Sie diese Person erst zum zweiten Mal treffen. Gesten können viele Worte ersetzen.
Der Höhepunkt ist dann das Gespräch, wenn man hofft, dass sich der Name enthüllt. Aber das passiert nie. Nie! Die wahre Hölle beginnt jedoch erst, wenn man den Namen wirklich braucht. Wörter sind wie Passwörter: Man hat sie irgendwo gespeichert, aber in dem Moment, in dem man sie braucht: Error! Man erinnert sich an Bruchstücke: «Irgendetwas mit H, oder M, oder Sch», und im Kopf dreht sich das Glücksrad. Huber? Meier? Schiessmichtot? «Den kenne ich doch!» und «Namen vergessen» sind die wahren olympischen Disziplinen des Alltags.
Trotz Training gewinnt keiner, alle schwitzen – und am Ende sagt man sicherheitshalber nur: «Wir sehen uns» oder wir winken salopp in die Runde und murmeln Unverständliches, bevor der Erste die Hand ausstreckt und sich persönlich verabschieden will. Wer die Kunst nicht beherrscht, sich an vergessene Namen zu erinnern, der muss einfach nur schnell sein und verschwinden, bevor das Desaster seinen Lauf nimmt.
Claude Lachat ist Schriftsteller, Jahrgang 1963 und wohnhaft in Nunningen. Er arbeitet als Programmleiter von Tandem 50 plus Baselland.