AUSGEFRAGT | MICHELLE BICHSEL, HEBAMME
11.05.2024 GesellschaftWenn das Kinderzimmer leer bleibt
Michelle Bichsel betreut jährlich rund 100 Familien vor und nach der Geburt. Manchmal kommt es zu Komplikationen und gar zum Kindsverlust. Die betroffenen Mütter unterstützt die Hebamme bei der Bewältigung ihres ...
Wenn das Kinderzimmer leer bleibt
Michelle Bichsel betreut jährlich rund 100 Familien vor und nach der Geburt. Manchmal kommt es zu Komplikationen und gar zum Kindsverlust. Die betroffenen Mütter unterstützt die Hebamme bei der Bewältigung ihres Verlustes.
Brigitte Keller
Frau Bichsel, wann wussten Sie, dass Sie Hebamme werden wollen?
Michelle Bichsel: Das ist eine oft gestellte Frage und es ist tatsächlich so, dass ich bereits im Kindergarten in die Freundschaftsbücher meiner Gspänli unter der Rubrik «Was ich einmal werden möchte» «Hebamme» geschrieben habe. Ich bin auf einem Bauernhof aufgewachsen und wenn eine Kuh kalbte, war ich zuvorderst dabei. Das hat mich immer brennend interessiert.
Sie helfen beim Kinderkriegen, wollen selber aber keine. Vor einiger Zeit haben Sie Ihren Standpunkt in der «Dok»-Sendung des nFernsehens SRF «Kinderfrei – Frauen ohne Kinderwunsch» vertreten. Wie waren die Reaktionen darauf?
Ich bin sehr froh, dass ganz klar wurde, dass ich zwar selber keine Kinder möchte, aber Kinder sehr liebe. Ich wurde nach der Ausstrahlung regelrecht überschüttet mit positiven Reaktionen. Es gab auch Zuspruch von Männern, die sich haben sterilisieren lassen, aber mit niemandem darüber sprechen konnten. Und auch ganz viel von Müttern. Dass sich eine Frau, die sich unterbinden lassen will, ihre Zurechnungsfähigkeit von einem Psychologen attestieren lassen muss, empörte auch viele Mütter. Der Umkehrschluss ist ja auch nicht gerade wertschätzend …
Nicht jede Schwangerschaft geht gut. Was für Situationen erleben Sie?
Zu jedem Zeitpunkt der Schwangerschaft kann es zu Komplikationen und einem Verlust des Kindes kommen. Die Schwangerschaftswoche bestimmt nicht, wie stark die Trauer über den Verlust ist. Als Hebamme komme ich mit dem ganzen Spektrum in Berührung. Da gibt es Frauen, die ihr Kind noch vor der zwölften Woche verlieren und am Boden zerstört sind. Oder Frauen, bei denen alle Tests während der Schwangerschaft gut waren und das Kind dann todkrank zur Welt kommt. Zu Hause wartet ein fertig eingerichtetes Kinderzimmer und die Frau muss ohne Bébé nach Hause.
Mit der pränatalen Diagnostik können werdende Eltern mit Diagnosen wie Trisomie 21, Trisomie 18 oder anderen Fehlbildungen konfrontiert werden. Können Sie diese Familien auch unterstützen?
Die Entscheidung über einen Schwangerschaftsabbruch in einem solchen Fall müssen die Familien immer selber treffen. Es gibt kein Richtig oder Falsch. Wenn ich gefragt werde, ermutige ich die Paare, keine überstürzte Entscheidung zu treffen. Ich ermutige die Frauen, sich für beide Varianten – Schwangerschaft fortsetzen oder Abbruch – mindestens 24 Stunden Zeit zu nehmen. Also zu versuchen, sich einen Tag lang so zu fühlen und zu verhalten, wie wenn man sich für die eine und dann für die andere Variante entschieden hätte.
Solange das Kind da ist, ist auch Zeit, um Erinnerungen zu schaffen. Hatte man sich zum Beispiel schon darauf gefreut, mit dem Kind einmal in den «Zolli» zu gehen, könnte man sich vornehmen, jetzt noch zusammen mit dem Kind im Bauch einen Besuch zu machen.
Sie bieten auch Rückbildungskurse nach einem Kindsverlust an. Wie sind Sie darauf gekommen?
Den Anstoss dazu gab mir eine Frau, deren Kind zwei Wochen nach der Geburt verstorben ist. Sie sagte zu mir: «Schau meinen Körper an, ich möchte einen Rückbildungskurs machen, aber ich kann nicht in einen Kurs mit Müttern gehen, die sich über Koliken und Schlafgewohnheiten ihrer Bébés aufregen.» Ich habe mich mit einigen anderen Fachpersonen zusammengetan und den vom Verein «Kindsverlust» angebotenen Lehrgang absolviert. Mittlerweile sind wir in der Region Basel fünf Frauen, die jeweils abwechselnd in Zweierteams Kurse anbieten. Gerade die Erfahrung, zu einer Gruppe zu gehören und zu erleben, nicht die Einzige zu sein, der es passiert ist, ist für die betroffenen Frauen sehr hilfreich. Es sind viel mehr Frauen damit konfrontiert, als Aussenstehende ahnen. Ihre Bäuche und Arme sind leer, ihre mütterliche Fürsorge hat keinen Empfänger.
Wie unterscheidet sich dieser Rückbildungskurs von anderen?
Im Unterschied zu den normalen Rückbildungskursen liegt der Fokus nicht nur auf dem Körperlichen, sondern auch auf dem Umgang mit der Trauer und dem Stärken der Ressourcen, denn diese Frauen befinden sich zu diesem Zeitpunkt in einem Überlebensmodus. Ihre Welt ist gerade eingestürzt und sie fühlen sich meist sehr alleine, denn oft wird nicht darüber gesprochen. In diesen Kursen hat jede Frau im Raum ein Kind verloren, das gibt von Anfang an eine Verbundenheit und Offenheit und nicht selten eine lange Umarmung. Neben den Babyfotos, die hier in meiner Praxis hängen, gibt es auch einen Erinnerungsbaum, wo Kärtchen aufgehängt werden mit den Namen der verstorbenen Kinder. Auch diese Kinder haben hier einen Platz, das ist mir wichtig. Deren Namen darauf zu lesen, berührt auch die Frauen mit Kindern sehr. Kürzlich sagte mir eine Mutter: «Weisst du, ich lese diese Namen und dann gehe ich nach Hause zu meinem Kind, das gerade so anstrengend ist, und ich halte es fest und bin so froh, dass es ihm gut geht.» Solche Geschichten und der Einfluss, den ihre Kinder über den Tod hinaus haben, bedeuten wiederum den verwaisten Müttern viel und berühren sie sehr.
Zur Person
bke. Michelle Bichsel, 33, ist in Gelterkinden aufgewachsen und wohnt und arbeitet dort. Ihre Ausbildung zur Hebamme hat sie am Unispital in Freiburg im Breisgau/D absolviert. Sie ist selbstständig tätig. Michelle Bichsel, Silvia von Büren (Basel), Aja Maurer (Basel), Madeleine Baumann (Liestal) und Silke Brunner (Liestal) bieten auch «Rückbildungskurse und Neuorientierung nach Verlust eines Kindes» an.