AUSGEFRAGT | JULIAN SCHILLIGER, ETH-ABSOLVENT IN INFORMATIK UND ROBOTIK
31.01.2025 Baselbiet«Wir lesen Originaltexte aus der Römerzeit»
ETH-Absolvent Julian Schilliger aus Oberdorf hat in den USA einen Wettbewerb gewonnen: Zusammen mit zwei anderen jungen Informatikern gelang es ihm, eine verbrannte römische Papyrusrolle wieder lesbar zu ...
«Wir lesen Originaltexte aus der Römerzeit»
ETH-Absolvent Julian Schilliger aus Oberdorf hat in den USA einen Wettbewerb gewonnen: Zusammen mit zwei anderen jungen Informatikern gelang es ihm, eine verbrannte römische Papyrusrolle wieder lesbar zu machen. Dieser Erfolg hat dem 29-Jährigen Türen geöffnet.
Paul Aenishänslin
Herr Schilliger, eine Papyrusrolle zu lesen, ohne sie zu öffnen, grenzt an Zauberei. Wie macht man das?
Julian Schilliger: Drei Schritte sind zu unterscheiden: Die Papyrusrolle wurde nach Oxford geflogen und in einem Teilchenbeschleuniger gescannt. Das ist so, als würde man die Rolle in hauchdünne Scheiben schneiden, ohne sie zu zerstören. Dieses Verfahren ist jedoch teuer, deshalb erhielten alle Teams eine gescannte Papyrusrolle. Der zweite Schritt bestand darin, die gescannte Rolle zu entrollen, und zwar nicht buchstäblich, sondern im Computer mithilfe von Algorithmen und Künstlicher Intelligenz.
Und es war Ihr Programm, das benutzt wurde?
Ja. Mit meinem Programm konnte ich einen Teil der Papyrusrolle «ausrollen». Dann war es die Aufgabe meiner Gruppenmitglieder Luke Farritor (USA) und Youssef Nader (Ägypten), die beschädigte Tinte der altgriechischen Schrift lesbar zu machen, die 2000 Zeichen oder 5 Prozent der gesamten Rolle umfasst. Es handelt sich um einen unbekannten Originaltext des griechisch-römischen Philosophen und Dichters Philodemos von Gadara, der vor rund 2000 Jahren lebte und über den Genuss von Speisen und Musik sinnierte.
Wie sind Sie auf die «Vesuvius Challenge», der Wettbewerb um die Entzifferung des Payprus, aufmerksam geworden?
Ich habe im Internet gelesen, dass Nat Friedman, ein Unternehmer aus dem Silicon Valley, die «Vesuvius Challenge» lanciert hat. Er tat dies genau am 15. März 2023 – ein Datum, das im römischen Kalender als «Iden des März» bekannt ist. Der «Iden des März» ist eine Metapher für bevorstehendes Unheil und geht auf die Ermordung Julius Caesars an diesem Tag zurück (schmunzelt).
Worum ging es bei der Challenge?
Beim Ausbruch des Vesuvs vor 2000 Jahren wurde in Herculaneum, einer Stadt am Golf von Neapel, unter anderem eine prächtige römische Villa mit einer eigenen Bibliothek verschüttet. Vor etwa 250 Jahren wurden über 1000 Papyrusrollen aus dieser Bibliothek ausgegraben. Sie sind jedoch verkohlt und lassen sich nicht öffnen, ohne zu zerbröseln. Ein Grossteil der gefundenen Rollen wurde bei früheren Leseversuchen unwiederbringlich zerstört. Die Durchleuchtung dieser antiken Schriftrollen mit Künstlicher Intelligenz eröffnet neue Möglichkeiten, die Texte zu entziffern. Die «Vesuvius Challenge» belohnte Hobbyforscher, die als erste einen Teil einer Papyrusrolle aus der Bibliothek entziffern konnten, ohne sie zu öffnen. Ich gehörte der erfolgreichen Gruppe an.
Wo wurde der Preis verliehen?
Die Ehrung fand im März vergangenen Jahres in der «Getty Villa» in der Nähe von Los Angeles statt, die glücklicherweise von den jüngsten verheerenden Bränden verschont geblieben ist. Das Gebäude ist ein Nachbau der römischen Villa von Herculaneum, in der «unsere» Papyrusrolle gefunden wurde.
Wie geht es nun weiter?
Seit Februar 2024 bin ich Mitarbeiter des Organisators der «Vesuvius Challenge». Unser Ziel ist es, in den nächsten zwei Jahren die 300 verbliebenen Papyrusrollen aus dem Bestand der Bibliothek vollständig zu entziffern. Es wäre das erste Mal in der Geschichte der Menschheit, dass eine grosse Anzahl antiker Texte in altgriechischer und lateinischer Sprache im Original gelesen werden können. Die überlieferten Texte aus der Antike sind oft Kopien, die im Mittelalter und später auf verschiedenen Wegen nach Mitteleuropa gelangt sind.
Was ist Ihre Aufgabe bei der Entzifferung von nicht nur einer, sondern einer Grosszahl von antiken Schriftrollen?
Ich arbeite an Methoden, um den Prozess des virtuellen Ausrollens der Papyrusrollen zu beschleunigen beziehungsweise zu automatisieren. Diese neuen Methoden sollen ökonomisch zur Anwendung gebracht werden. Fachleute werden das Entziffern der Schriftrollen übernehmen. Das ganze Vorhaben ist ein weltweites Projekt mit vielen Beteiligten und Helfern unter Teilung aller Erkenntnisse.
Wie wird die Weiterführung des Vesuvius-Projekts finanziert?
Glücklicherweise gibt es viele Menschen, vor allem Millionäre und Milliardäre, die gerne helfen, wertvolle antike literarische Schätze zu bewahren. Ihr Name bleibt mit einem guten Projekt verbunden. Elon Musk etwa hat uns 2 Millionen Dollar gespendet.
Wie profitiert die Menschheit von dem Projekt?
Wir hoffen, die Menge der überlieferten Texte aus der Antike verdoppeln zu können. Unsere Arbeit soll Zugang zu vielen unbekannten antiken Originalschriften ermöglichen.
Gibt es neben der 300 Papyrusrollen aus Herculaneum weitere antike Schriftenrollen zu entziffern?
Ja, möglicherweise noch Tausende in Herculaneum selbst. Es existieren zudem viele Fundstätten antiker Schriften rund ums Mittelmeer über Ägypten bis nach Indien. Ich bin glücklich, schon in jungen Jahren Teil dieser grandiosen Entdeckungsreise zu sein, durch etwas Glück und Zufall, aber auch durch meinen eigenen Einsatz.
Möchten Sie diese Arbeit weiterführen?
Ich möchte selbstständig sein. Ich beobachte viele Möglichkeiten, wo der Einsatz von Robotik das Leben gerade alter Menschen verbessern könnte. So würde ich gerne einen Roboter konstruieren, der alten Menschen hilft, ihre Augentropfen zu nehmen, ohne dass die Hälfte davon das Ziel verfehlt.
Zur Person
pae. Julian Schilliger ist 1995 geboren und in Oberdorf aufgewachsen. Er hat an der ETH Zürich Informatik und Robotik studiert und sein Studium 2023 mit dem Master abgeschlossen. Im Februar vergangenen Jahres hat er mit zwei Kollegen den Preis der «Vesuvius Challenge» gewonnen zur erstmaligen teilweisen Entzifferung einer antiken Papyrusrolle, die beim Vesuvausbruch 79 nach Christus verbrannt ist und nicht geöffnet werden kann. Zum Einsatz kamen dabei KI und Algorithmen. Schilliger gewann im Januar auch den Innovationspreis der Gemeinde Oberdorf.