Aufgeben ist keine Option
02.09.2025 Bezirk LiestalLeben mit der Nervenkrankheit Friedreich-Ataxie – eine Betroffene spricht darüber
Gut 25 Gäste feierten diesen Juli den 35. Geburtstag von Zaira Civitillo. Abgesehen davon ist aber schon lange nichts mehr normal im Leben der jungen Liestalerin: Sie hat eine degenerative ...
Leben mit der Nervenkrankheit Friedreich-Ataxie – eine Betroffene spricht darüber
Gut 25 Gäste feierten diesen Juli den 35. Geburtstag von Zaira Civitillo. Abgesehen davon ist aber schon lange nichts mehr normal im Leben der jungen Liestalerin: Sie hat eine degenerative Erkrankung des zentralen Nervensystems, die sie im Leben immer stärker einschränkt.
Brigitte Keller
Die Krankheit, an der Zaira Civitillo aus Liestal leidet, heisst Friedreich-Ataxie. Es ist eine seltene, erbliche neurodegenerative Erkrankung, die durch eine fortschreitende Koordinationsstörung – Ataxie – der Muskeln gekennzeichnet ist (siehe Kasten unten). Die Erkrankung manifestiert sich typischerweise im Kindes- oder frühen Erwachsenenalter und führt zu zunehmenden Schwierigkeiten beim Gehen, Sprechen und anderen Bewegungen.
Zaira Civitillo war im Kindergartenalter, als ihrer Mutter auffiel, dass ihr Gang manchmal etwas schwankend war. Heute sitzt die junge Frau im Rollstuhl, hat zwei Stäbe zur Stabilisierung im Rücken, kann fast nur noch den Kopf bewegen, ihr Herz ist geschädigt, sie hört schlecht, sieht schlecht und hat grosse Mühe beim Sprechen. «Im Kopf bin ich aber ganz normal», sagt sie, «ich kann normal überlegen, nur der Weg nach draussen ist eingeschränkt.» Wie hat sie gelernt, trotz dieser Erkrankung und deren Fortschreiten nicht den Lebenswillen zu verlieren? Hört man zum ersten Mal von dieser Krankheit und ihrem Verlauf, kann man es nicht fassen.
«Es ist nicht einfach», erzählt Civitillo, «ich habe viele Kämpfe gehabt mit mir, und immer wieder, weil es immer schlimmer wird.» Von allen Symptomen der Krankheit sei die Sprechstörung für sie das Schlimmste. Denn während sich in ihrem einwandfreien Hirn das alltägliche Feuerwerk an Gedanken abspiele, könne sie diese verbal nicht länger wie gewünscht ausdrücken. «Aber ich probiere immer, das Beste daraus zu machen. Ich verliere meinen Lebenswillen nicht», sagt Civitillo, diese junge Frau vis-àvis, fast bewegungslos im Rollstuhl liegend, und doch modisch gekleidet und hübsch geschminkt. Auch darum muss sie jeweils jemanden bitten, denn, wie gesagt, selber bewegen kann sie nur noch den Kopf.
Schreiben mit den Augen
Mit dem Kopf respektive mit den Augen ist es ihr mit viel Anstrengung noch möglich, einen Computer zu bedienen. Mit den Augen fokussiert sie einen Befehl auf dem Bildschirm, den sie ausführen möchte. Wenn sie etwas schreiben möchte, muss sie auf einem Alphabet auf dem Bildschirm jeden einzelnen Buchstaben mit den Augen auswählen. Ihr überwältigender Lebenswille macht beinahe Unmögliches möglich. Auf diese Art und Weise hat sie während der vergangenen sieben Jahre ihre Lebensgeschichte niedergeschrieben. «Ich muss sagen, dass es der Psyche guttut, sich alles von der Seele zu schreiben.»
Bisher konnten oder durften erst sehr wenige Menschen die Geschichte lesen. Eine davon ist die ehemalige SP-Landrätin Annemarie Marbet. Sie hat vor einiger Zeit den Kurs «Passage SRK» absolviert, um sich in der Begleitung von schwerkranken und sterbenden Menschen zu engagieren. Via Rotes Kreuz lernte sie Zaira Civitillo kennen und besucht sie seit März regelmässig alle zwei Wochen für ein paar Stunden. Durch sie kam auch der Kontakt zur «Volksstimme» zustande.
Es ist Zaira Civitillos Wunsch, ihre Geschichte öffentlich zu machen. Der Titel lautet: «Till I collapse – Ich kämpfe bis zum Schluss. Der Kampf gegen meinen eigenen Körper hört erst beim Tod auf.» Die Eltern konnten bisher auch noch nicht lesen, was ihre Tochter geschrieben hat. Aber sie habe ihnen natürlich gesagt, dass sie ihre Gedanken offen und sehr direkt «zu Papier» gebracht habe. So steht an einer Stelle beispielsweise, dass, wenn sie die Wahl gehabt hätte, entweder mit dieser Krankheit zu leben oder nie geboren worden zu sein, sie Letzteres gewählt hätte.
Ein guter Grund, dass Civitillo ihren Lebensmut nicht verliert und weiterkämpft, ist der Lebenspartner an ihrer Seite. Zum ersten Mal begegnet sind sich Joel Sigrist und sie vor 20 Jahren. Im Teenageralter, im Ausgang beim Partymachen. Denn dort war die damals 15-jährige lebenshungrige Frau trotz ihrer Einschränkungen regelmässig anzutreffen. Ein Paar wurden die beiden aber erst vor rund drei Jahren. Und seit zwei Jahren wohnen sie zusammen. «Ich bewundere sie jeden Tag und sage jedem: ‹Nehmt euch ein Beispiel an ihr, bei all dem, was sie in ihrem Leben schon durchmachen musste›», sagt Sigrist. Umgekehrt erhält auch er viel Respekt aus dem Umfeld, für das, was er leistet.
Eine grosse und wichtige Stütze waren Zaira Civitillo auch immer ihre Grosseltern. Ihr Grossvater hat sie früher, als sie nicht mehr gehen konnte, oft zur Schule gefahren, und auch zu Mittag gegessen hat Zaira damals täglich bei den Grosseltern. Ihre geliebte Grossmutter verstarb vor 13 Jahren, aber ihr Nonno, mittlerweile 91 Jahre alt, unterstütze sie nach wie vor so gut er kann. So kocht er noch immer für die Enkelin und deren Partner. «So stark wie mein Grossvater wäre ich gerne», schreibt Civitillo in ihrer Biografie, «er ist eine der wichtigsten Personen in meinem Leben.»
Wie alles anfing
Aufgewachsen ist Zaira Civitillo in Niederdorf. Als sie in den Kindergarten ging, schaute ihr ihre Mutter immer aus dem Fenster nach. Eines Tages fiel ihr dabei der leicht schwankende Gang ihrer kleinen Tochter auf. Was wohl der Grund dafür sein könnte? Mit einem Besuch beim Arzt begann es, und viele Tests und Abklärungen später brachten die brutale Gewissheit: Friedreich-Ataxie. Wenn beide Eltern Träger des veränderten Chromosoms sind, besteht eine 25-prozentige Wahrscheinlichkeit, dass beim Kind die Erkrankung ausbricht. Ihre Mutter und ihr Vater wussten nicht, dass sie beide Träger der Erbkrankheit sind. Der Bruder von Zaira Civitillo hat die Krankheit nicht geerbt.
Ein Ausschnitt aus den Erinnerungen von Zaira Civitillo, festgehalten in ihrer Lebensgeschichte: «Etwa ab der 5. Klasse mussten mich meine Eltern oder mein Grossvater täglich in die Schule fahren, weil ich meinen Schulweg nicht mehr selber bewältigen konnte. Gegen Ende der 5. Klasse rutschte ich nur noch auf meinem Hosenboden die Treppe hoch und wieder hinunter (das Schulzimmer befand sich im dritten Stock ohne Lift).
Manchmal wurde ich getragen, aber nur, wenn der Fussboden beispielsweise nass oder schmutzig war. Ich wurde oft in der Schule wegen meines Pinguin-artigen Gangs ausgelacht und beleidigt, meistens von älteren Schülern. Meine Klassenkameraden haben mir immer sehr viel geholfen. Sie erwarteten mich oben mit einem Bürostuhl auf Rollen und brachten mich damit ins Klassenzimmer …»
Gegen den Rollstuhl sträubte sich Zaira Civitillo lange. «Meinem Dickkopf habe ich einiges zu verdanken, aber ich legte mir damit selber auch immer wieder Steine in den Weg», so ihre Einschätzung dazu aus heutiger Sicht. Mit 14 Jahren zwang die Krankheit die Kämpferin permanent in den Rollstuhl. Im letzten Schuljahr unterzog sie sich zudem einer grossen Operation. Es wurden zwei Stangen links und rechts der Wirbelsäule eingesetzt, um diese zu stabilisieren und damit die Skoliose zu stoppen und die Lunge stabil zu halten. Auch darüber, und wie sie heute dazu steht, erfährt mehr, wer die Biografie lesen kann.
Stand der Forschung
Bisher gab es keine Medikamente und keine Heilung der Krankheit. 2024 wurde jedoch das Medikament Skyclarys mit dem Wirkstoff Omaveloxolon zugelassen. Es ist das erste Medikament, das eine nachweisliche Verlangsamung des Fortschreitens der Krankheit bewirken kann. Um die happigen Kosten dafür von der Krankenkasse bezahlt zu bekommen, muss man einen Test absolvieren, bei dem der Stand der Krankheit ermittelt wird. Der Score muss mindestens 20 betragen und darf nicht über 80 liegen. Die Kosten für eine Jahresdosis des Medikaments betragen rund 250 000 Franken. Zaira Civitillo hatte bei ihrem Test einen Score von 90. Damit hätte sie kein Anrecht mehr auf die Kostenübernahme durch die Krankenkasse.
Hätte, denn da sind die Frau, die noch möglichst lange leben möchte, und ihr Freund, der sie noch möglichst lange in seinem Leben haben möchte. Deshalb geben sie sich noch nicht geschlagen. Zaira Civitillo wird den Test in Kürze nochmals wiederholen und hofft, dabei unter den Score von 80 zu kommen. Dafür hat sie sich verschiedene Vitaminpräparate bestellt, die ihr helfen sollen, besser abzuschneiden. Sie greift nach jedem Strohhalm.
Kampf und Träume
Trotz ihrer Einschränkungen liebt es Zaira Civitillo, zu reisen. Dabei muss sie jeweils jemanden finden, der sie begleitet. Ihre Mutter, die ein Reisebüro betreibt, war mehrmals ihre Reisebegleiterin. Oder, wenn sie Glück hatte, auch ein lieber Freund. Wenn sie eine Begleitung engagieren muss, trägt sie zusätzlich deren Reisekosten. Ihr unbändiger Lebenswille «versetzte schon den einen oder anderen Berg». Ganz besonders angetan haben es ihr die USA, und ganz oben steht New York. Dorthin würde sie gerne im kommenden Jahr zusammen mit Lebenspartner Joel Sigrist reisen.
Noch möglichst lange am Leben zu bleiben und dabei auch reisen zu können – wofür sie unbedingt das neue Medikament bräuchte – ist der grösste Wunsch von Zaira Civitillo. Und dann vielleicht gar noch ihrem musikalischen Idol und US-Rapper Eminem persönlich begegnen zu können, wäre auch grossartig. «Eminem spricht mir mit seinen Songtexten aus der Seele», hat die Oberbaselbieterin in ihrer Lebensgeschichte notiert. «Ich bewundere ihn für das, was er alles geschafft hat. Seine Texte haben mir so manches Mal geholfen, wenn ich nicht mehr weiter wusste.»
Ebenfalls grossartig fände es die Frau, einen Verlag zu finden, der bereit wäre, ihre Biografie zu publizieren. Damit möchten sie und ihr Lebenspartner Menschen Mut machen. Menschen, die selber mit Einschränkungen zu kämpfen haben; dass es sich lohnt, nicht aufzugeben. Aber insbesondere auch alle gesunden Menschen ermutigen, möglichst offen auf Betroffene zuzugehen und diese als normale Menschen wahrzunehmen.
Friedreich-Ataxie
bke. Die Friedreich-Ataxie (Morbus Friedreich) ist eine degenerative Erkrankung des zentralen Nervensystems. Erste Symptome zeigen sich meist vor dem 25. Lebensjahr. Die Krankheit verläuft progredient, die Symptomatik umfasst vielfältige neurologische, psychische, orthopädische und kardiologische Symptome. Die Friedreich-Ataxie wurde nach dem deutschen Pathologen, Internisten und Neurologen Nicolaus Friedreich benannt, der die Krankheit erstmals 1863 in Heidelberg dokumentierte. In Mitteleuropa tritt die Krankheit bei durchschnittlich einem von 50 000 Neugeborenen auf und ist damit die am häufigsten auftretende Erbkrankheit. In der Schweiz leben rund 250 Personen mit dieser Krankheit.