Abfl ug in den Süden
21.11.2025 PersönlichJeden Herbst empfinde ich es aufs Neue als Privileg, der Kälte entfliehen zu können. Ein Traum, den ich als Teenager schon hatte. Meine Tagebücher von damals sind voll von dramatischen Wehklagen über die Ödnis und das Elend des Winters in der Schweiz. Daran hat sich in ...
Jeden Herbst empfinde ich es aufs Neue als Privileg, der Kälte entfliehen zu können. Ein Traum, den ich als Teenager schon hatte. Meine Tagebücher von damals sind voll von dramatischen Wehklagen über die Ödnis und das Elend des Winters in der Schweiz. Daran hat sich in den späteren Jahrzehnten nichts geändert. Schnee war mir immer zu kalt, Regen zu nass und Hochnebel zu depressiv. Ich beneidete die Zugvögel. Gerade war noch ihr aufgeregtes Gezwitscher an den Sammelplätzen zu hören, und am nächsten Tag waren sie weg. In diesem aufgeregten Zwitschermodus befinde ich mich gerade. Nur, dass mein Aufbruch solo vonstattengeht und meine Flügel vier Räder sind.
Mehr oder weniger machen wir menschlichen Zugvögel uns alle solo oder im Duett auf den Weg. Aus meinem Bekanntenkreis kommen täglich neue Standortmeldungen auf den Routen, die sie in den Süden nehmen. Die Wanderbewegung setzt jedes Jahr im Oktober und November ein. Meist geht es über das Rhonetal nach Lyon, Montpellier und Perpignan Richtung Spanien. Und jedes Jahr positionieren sich auf dieser Route auch einige Raubvögel, die auf fette Beute aus sind, wie ich selbst erfahren musste, als mir Ausweise, Geld und Handy gestohlen wurden.
Aber aus Erfahrung wird man klüger, heisst es. Darum halte ich, wenn möglich, nicht auf Autobahnraststätten, entferne mich in der Fahrpause nicht vom Fahrzeug und habe meine Dokumente und mein Geld strategisch in Rucksack und Camper verteilt. Ausserdem besitze ich zwei Handys. Denn ohne Handy geht fast gar nichts mehr.
Mit den Raubüberfällen auf der Strecke ist es so wie mit den Tornados an der Algarve. Sie können passieren, sind aber meistens nur tragische Einzelfälle. Die 2222 Kilometer nach Fuseta sind vor allem eines: sehr lang. Und zu grossen Teilen langweilig. Mein Navi gibt nur alle paar Hundert Kilometer ein neues Kommando. Ich zähle die Städte, die Stunden, die Flüsse. Manchmal rege ich mich über Raser auf. Oft fluche ich, wenn die Lastwagen ein Elefantenrennen veranstalten. Dann krächze ich wieder lauthals zu einem Song mit, es hört mich ja zum Glück keiner.
Nach drei Tagen Fahrt bin ich endlich da. Jetzt geht es nur noch darum, einen schönen Platz in Meeresnähe zu finden. Das ist nicht einfach, die schönen Campingplätze quellen über. In Fuseta warte ich meist einige Tage vor dem Campingplatz, bis eine Parzelle frei wird. Jeden Morgen stelle ich mich eine Stunde vor der Öffnungszeit der Rezeption an, um die Erste in der Schlange zu sein. Reservationen werden keine entgegengenommen. Bin ich drin, muss ich nehmen, was es gibt, egal ob Schatten, unebener Platz oder kein WLAN.
Aber natürlich ist es die Sache wert. Grosses Hallo beim Wiedersehen mit alten Bekannten. Ein Begrüssungsumtrunk jagt den nächsten. Dann die ersten Ausflüge an den Strand, ins Dorf, in die vertrauten Cafés und Geschäfte. Ach, es juckt mich schon in den Rädern.
Yvonne Zollinger ist ehemalige «Volksstimme»- Redaktorin und lebt in ihrem Wohnmobil.

