Herr Professor
Fünf Minuten sind vergangen, seit eine neue Brille meine Nase erobert hat. Nun sitze ich mit der schwarzen Sehhilfe, mit einem Touch ins Grüne, gleich nebenan in der Physiotherapie. Die Therapeutin blickt für einmal nicht auf meine Beine und ...
Herr Professor
Fünf Minuten sind vergangen, seit eine neue Brille meine Nase erobert hat. Nun sitze ich mit der schwarzen Sehhilfe, mit einem Touch ins Grüne, gleich nebenan in der Physiotherapie. Die Therapeutin blickt für einmal nicht auf meine Beine und meine Haltung, sondern in die Augen. «Oh, neue Brille», sagt sie und ringt um weitere Worte. «Damit siehst du aus wie ein …», beginnt sie, und ich glaube, sie will zum Begriff «Hipster» greifen, bedenkt dann aber das fortgeschrittene Alter ihres Gegenübers. Nach kurzer Denkpause entscheidet sich anders: «... wie ein Professor, dessen Vorlesung alle gerne besuchen.» Welch ein Bild!
Wochen später fordert mich eine andere Physiotherapeutin im Wasser auf: «Lass das Wasser gewinnen! Lass das Wasser gewinnen!» Sie hätte mich ebenso gut anweisen können, mich im Bassin zu entspannen oder mich nicht zu sperren, appelliert aber lieber an den alten Ehrgeizling in mir. Es gehört nicht zur Grundausbildung dieses Berufs, einen Patienten mit aussergewöhnlichen Sprachbildern anzutreiben, zumal diese in der Regel der geschriebenen Sprache vorbehalten sind. Goethe dürfte morgens beim Frankfurter Bäcker Brot und Brezel kaum anders bestellt haben als wir, ehe er sich danach in seinen Faust vergrub. Beim Schreiben können wir in Musse am Gänsekiel knabbern. Vielleicht sollten wir uns diese Zeit auch öfters beim Sprechen gönnen, um ein Sprachbild zu schaffen, das es zu mehr als ein paar Minuten Lebenszeit bringt.
Jürg Gohl