Endlich

Es ist passiert. Im Alter von 55 Jahren, 9 Monaten und ein Paar Zerquetschten bin ich mir zum ersten Mal der Endlichkeit meines Lebens bewusst geworden. Es geschah beim Lesen eines Artikels über die geplanten Milliardenbauten der SBB in Basel. Vor dem Jahr 2080 sei mit einer Fertigstellung des SBB-Herzstücks nicht zu rechnen, hiess es. Sofort begann ich zu rechnen und kam zur Erkenntnis: Selbst mit lebenslänglichem Verzicht auf Pizza, Pasta und Prosecco, mehr Bewegung und ganz viel Zen würde ich dann nicht mehr am Leben sein.

Aber es wäre toll zu erleben, ob und wie das Projekt am Ende herauskommt oder zu erfahren, ob der Mensch dann überhaupt noch Bahnhöfe braucht. Vielleicht «beamt» er sich ja schon von Ort zu Ort. Spannend wäre auch zu wissen, wie das mit der Zehn-Millionen-Schweiz gekommen ist, ob die Tatsachen die Klimawandel-Leugner zum Schweigen gebracht haben und ob wir alle zu glücklichen Veganern geworden sind.

Was also bräuchte es, um möglichst viel Lebenszeit zu schinden, damit ich möglichst viel Zukunft erleben kann – abgesehen von einer ausgewogenen Ernährung, «Nein zu Tabak», viel Bewegung, innerem Gleichgewicht und dem Verzicht auf Hochrisiko-Sportarten? Dr. Internet hat einige Tipps parat, wie man Lebensjahre dazugewinnen kann. Oft genannt werden soziale Kontakte und Neugier: Wer unter Menschen ist und etwas Sinnstiftendes tut, erfährt Freude und Glück, was ihn länger leben lassen soll als einen einsamen, vor sich hin vegetierenden Menschen. Und gut fürs Oberstübchen ist, wenn man dieses stetig fordert und immer mit neuen Dingen füttert.

Das klingt nach viel Aufwand für einen nicht garantierten Effekt. Gibt es denn wirklich nichts Einfacheres und Zuverlässigeres als das? Zum Beispiel die Pille gegen das Altwerden? Es gibt sie! Ich stosse auf einen Beitrag über eine Anti-Aging-Pille mit Fleischgeschmack. Das Präparat ist allerdings für Hunde; sie sollen ein gesundes Jahr gewinnen können. Ich wanke. «Umbringen wird es mich kaum und – hey – immerhin Fleischgeschmack»: Ich zücke die Kreditkarte. Doch anstatt eines Bestellformulars finde ich auf der Website den Hinweis, dass sich das Medikament noch in der Zulassungsphase befindet. Bei der weiteren Suche nach dem Lebenselixier für Menschen strande ich bei einem soziologischen Diskurs über die gesellschaftlichen Herausforderungen, welche die Entwicklung eines solchen Medikaments mit sich bringen würde. Dann eben nicht! Ich klappe das Notebook zu und ziehe das Velodress an.

Die Beine fühlen sich gut an, die Tour durch den Wald in Richtung Sissacher Fluh ist ein Genuss und dank meines Alters schäme ich mich für den Elektromotor nicht ganz so sehr. Es ist doch nicht alles schlecht am alt werden. Kurz vor dem Ende der Tour fällt mein Blick auf Baumaschinen auf einem Feld neben der Rheinfelderstrasse, dort, wo der Chienbergtunnel während des Baus einstürzte. Mit den Geräten werden Untersuchungen des maroden Tunnels vorgenommen. Ich denke nur: Diese Sanierung werde ich doch hoffentlich noch erleben!

Christian Horisberger, stv. Chefredaktor «Volksstimme»

HERZBLUT

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