HERZBLUT
04.02.2025 GesellschaftDick in die Agenda
Nichts bestätigt uns ein halbes Leben lang so sehr in unserer Überzeugung, auf dieser Welt unersetzlich zu sein, wie eine proppenvolle Papieragenda. Sie wird immer und überall mitgeführt, und jeden Morgen reissen wir zum Kaffi die ...
Dick in die Agenda
Nichts bestätigt uns ein halbes Leben lang so sehr in unserer Überzeugung, auf dieser Welt unersetzlich zu sein, wie eine proppenvolle Papieragenda. Sie wird immer und überall mitgeführt, und jeden Morgen reissen wir zum Kaffi die vergeblich perforierte Ecke unten rechts weg – das Ärmelhochkrempeln der Schreibtisch-Handwerker. Heute lässt sich der persönliche Kalender bequem auf dem Sacktelefon führen, das uns piepsend oder mit zeitlich gestaffelten Botschaften an den «Zahni» oder Mamas Geburtstag erinnert. Gleichzeitig schwindet aber das Interesse, die eigene Woche wie einst im Mai des Lebens zuzupflastern.
In der letzten Januar-Woche ist es mir nur schlecht gelungen, meine Agenda jungfräulich zu halten. Zu den wenigen fixen Terminen gesellten sich auffallend viele andere. Deshalb liegt die aufregendste Woche des Jahres möglicherweise bereits hinter mir: Am Montag eine ergebnisreiche Vorstandssitzung mit einem feinen Nachtessen hinterher; und am Dienstag krönte ein klassisches Konzert mit lauter vertonten klassischen Gedichten einen auch sonst ereignisreichen Tag. Gleich in drei Variationen erliegt das Kind Erlkönigs Verlockungen. So oft reitet der Vater zur später Stund und zu Schuberts Crescendo durch Nacht und Wind dem Hofe zu.
Am Mittwoch im Marabu ein Kontrastprogramm zum Vorabend in der Liestaler Stadtkirche: Ich kugelte mich als Abgesandter der «Volksstimme» vor Lachen bei «Ohne Rolf», einem meiner Lieblinge in der Kabarett-Szene. Das sagenhafte Duo löst mit seinem Namen bei mir gemischte Gefühle aus, weil mein bester Schulfreund ebenfalls Rolf hiess. Er war erst Mädchen-, dann Frauenschwarm; er ging sogar mit der herzigen Bäckerstochter, die als Bravo-Girl kandidierte. Nur in der Schule war er nicht so sechsi wie sein Banknachbar, der meinte, zu ihm aufschauen zu müssen. Er verstarb jung, was mich an das wunderbare Geschichtlein «Kannitverstand» von Johann Peter Hebel erinnert.
Am Donnerstag geht es mit einem Interview mit Fussballtrainer Patrick Rahmen weiter, der meinem Altherren-Klub die Ehre erweist. Am Freitag und Samstag treffen wir uns, wie schon am Sonntag zuvor, mit befreundeten Paaren zum Znacht. In der Elektro-Agenda sind dafür jeweils drei Stunden reserviert, die beide Male massiv überschritten werden. Sonst hätten wir, als Fan und nicht als Lokalpatrioten, am Samstag dem Auftritt von Dominik Muheim in Liestal beigewohnt.
Den emotionalen Höhepunkt dieser Woche gilt es hier aber nachzutragen. Am Montag vergangener Woche jährte sich die Befreiung der Gefangenen im Vernichtungslager Auschwitz zum 80. Mal. So sah ich mir kurz nach dem Sitzungstermin Dokumentationen sowie einen wenig bekannten, aber tief berührenden Film an. Darin wird in einem süddeutschen Städtchen ein Güterwagen mit eingepferchten jüdischen Gefangenen abgestellt.
Ein paar wenige Einwohner bringen sogar ein kleines Mütchen auf, sich gegen die menschenverachtende Maschinerie aufzulehnen. Vielleicht reicht es uns 80 Jahre später sogar frühzeitig zu richtigem Mut. Schreiben wir uns das täglich dick in die Agenda.
Jürg Gohl, Autor «Volksstimme»