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21.01.2025 BaselbietWas gilt als Intelligenz und wie kommt sie zustande?
Als ich 1982 meine Praxis eröffnete, hatte ich als Hilfsmittel einen Computer angeschafft. Damals musste man sich gegenüber Kollegen noch erklären, denn es war nicht üblich, mit einem programmierten ...
Was gilt als Intelligenz und wie kommt sie zustande?
Als ich 1982 meine Praxis eröffnete, hatte ich als Hilfsmittel einen Computer angeschafft. Damals musste man sich gegenüber Kollegen noch erklären, denn es war nicht üblich, mit einem programmierten Gerät zu arbeiten. Meine Antwort war jeweils: Er rechnet viel schneller und genauer als ich, er vergisst nichts und richtig programmiert erinnert er mich an alles, was wichtig ist, um meine Arbeit zu erledigen. Mittlerweile sind die Rechner enorm viel schneller geworden, können riesige Datenmengen speichern und wieder abrufen, sodass die typische menschliche Schwäche der Vergesslichkeit kompensiert wird.
Bei den grossen Sprachmodellen (Chatbots) ist der Computer kaum mehr vom Menschen unterscheidbar. Der britische Mathematiker Alan Thuring hat 1950 einen Test entwickelt, in dem diese Unterscheidung geprüft werden kann, und er gilt heute noch als Test für die Künstliche Intelligenz. Wenn also bei einer Unterhaltung die Maschine nicht mehr von einem Menschen unterschieden werden kann, so gilt sie als intelligent. Dieser Test misst aber nur die Fähigkeit einer Maschine, in einer Konversation zu bestehen, ohne wirklich zu prüfen, ob sie die gleiche Art von «Verstehen» oder «Bewusstsein» hat wie der Mensch. Wenn die Maschine allerdings speziell dafür entwickelt wird, in einem Gespräch gegen den Menschen standzuhalten, so bedeutet das noch nicht, dass die Maschine tatsächlich intelligent ist.
Bei den grossen Sprachmodellen werden aus unvorstellbar grosse Datenmengen mit statistischen Methoden nach den häufigsten und sinnvollsten Kombinationen gesucht und diese als Text vorgeschlagen – und es entstehen eindrückliche Resultate. Der Anfragende selbst ist jedoch dadurch kaum intelligenter geworden. Wenn es jedoch um das Verstehen von Begriffen oder komplexen Zusammenhängen geht, die mathematisch nicht einfach erfasst werden können, zeigt die Maschine ihre Schwachstellen. Solange eindeutige Regeln vorhanden sind wie etwa beim Schachspiel, können alle möglichen Züge und Kombinationen durchgerechnet werden, die dann zum Sieg führen. Soll eine Maschine dazulernen, wie es der Mensch ständig tut, wird es schwierig. Sie braucht neue Daten, und diese Daten müssen mit der neuen Situation in Zusammenhang gebracht werden, sie müssen auch verlässlich und überprüfbar sein. Beim Dazulernen ist es nötig, Fehler oder Falschannahmen zu erkennen, um sie zu korrigieren. Algorithmen, die zu negativen Resultaten geführt haben, wurden oft zu spät erkannt, und die Schäden mussten mühsam behoben werden. Rechtliche Fragen zur Verantwortung sind kaum lösbar. Unser Rechtssystem bestraft bewusste Fehlhandlungen, ein Computer ohne Bewusstsein kann nicht behaftet werden.
Ständig dazulernen
Um intelligent wie ein Mensch zu sein, müsste Künstliche Intelligenz also ständig dazulernen, müsste durch Bewegung lernen, müsste verschiedene Wissensmodelle im verknüpften Zusammenhang speichern und wieder abrufen können, wie dies das Gehirn ständig tut.
Wenn wir also Künstliche Intelligenz erzeugen wollen, müssen wir verstehen, warum unser menschliches Gehirn als intelligent gilt. Wie erreicht das Gehirn, das aus einfachen Zellen besteht, die Vielfalt unserer Fähigkeiten? Im Beitrag über die Hirnrinde habe ich die Säulen beschrieben, die sich in der etwa zwei bis drei Millimeter dicken Schicht aneinanderreihen und bereits leistungsfähige «kleine Gehirne» darstellen, die sich ständig weiterentwickeln, verknüpfen, austauschen, anpassen und mit dem übrigen Nervensystem vernetzen können. Sie sind die Funktionselemente der menschlichen Intelligenz. Wir können sprechen, schreiben, zusammenhängend denken, abstrahieren, Neues schaffen, kommunizieren, glauben, philosophieren, politisieren, planen, uns auf vielseitigste Art bewegen und vieles mehr.
In der Neurowissenschaft möchte man herausfinden, wie diese Art des Zusammenwirkens zustande kommt. Wie kann ein Mensch entscheiden, was er vor sich sieht, wo er sich befindet, was ihn als Nächstes erwartet? Dies erscheint uns als Selbstverständlichkeit, sofern wir ein unbeeinträchtigtes Nervensystem besitzen, das sich vom Embryo bis zum jetzigen Zeitpunkt ungehindert entwickelt hat.
Wir wissen aus der Erforschung der kleinen Säulen, dass in ihnen verschiedenste Modelle entstehen, die uns helfen, unterschiedlichste Objekte, aber auch Begriffe zu identifizieren und uns zu merken. Diese Modelle dienen wie Muster in einem komplexen Bezugssystem. Als Beispiel aus dem Alltag möge eine Kaffeetasse dienen. Wenn ich sie in die Hand nehme, halte ich sie wohl am Henkel, steht sie neben meinem Bett und ich lese, möchte aber dazu Kaffee trinken, so genügt es, dass ich nach dem Ort greife, wo ich sie hingestellt habe. Meine Finger erkennen rasch, was ich tun muss, damit sie nicht kippt und ich nicht in den heissen Kaffee greife und wie sie an meinen Mund gelangt. Ich muss nicht einmal hinschauen.
Alle Voraussetzungen, dass dies gelingt, sind in unterschiedlichsten Modellen in meiner Hirnrinde und im restlichen Nervensystem gespeichert. Es spielt keine Rolle, ob die Tasse klein, schwer oder rot ist, meine Finger erwarten das, was ich antreffe. Ich habe die Tasse kennengelernt, sogar meine Lippen wissen, wie es sich anfühlen wird, wenn ich zu trinken beginne. Hat es jedoch eine Kerbe am Rand, die vorher nicht da war, meldet mir das Gehirn, dass etwas nicht stimmt, weil es vom Modell einer intakten Tasse abweicht. Sobald ich es angeschaut habe, kann ich es in meine zukünftige Erwartung einbauen, wenn es mich weiter stört, gebrauche ich die Tasse nicht mehr oder tausche sie aus.
Das Beispiel zeigt, wie unsere Hirnrinde uns durch Tausende von Modellen befähigt, mit der Kaffeetasse umzugehen. Sie kann auf dem Kopf stehen, uns in einer fremden Wohnung im Kasten begegnen, sogar als Scherben im Abfall vorkommen, wir wissen rasch, worum es sich handelt und erleben, wie die Modelle jederzeit durch Erfahrung angepasst und erweitert werden. In fremder Umgebung können Tassen völlig anders aussehen, dennoch werden sie ins Bezugssystem aufgenommen.
Lernen durch Bewegung
Ebenso gehört zum Bezugssystem die Erfahrung durch Bewegung. Wir erlernen gleichzeitig bei der Bewegung unserer Finger die Dimension, die Oberflächenstruktur und die Begrenzung des Objekts. Deutlicher lässt sich das Lernen durch Bewegung anhand einer Wohnung darstellen. Wir können zwar einen Plan vorgelegt bekommen, aber ein Rundgang durch eine Wohnung lässt uns erst erfahren, wie gross sie ist, wie die Räume wirken, wie der Lichteinfall ist, wie ruhig sie liegt. Deshalb wird wohl jeder, der eine neue Wohnung erwirbt, bestrebt sein, eine Besichtigung zu machen.
Die wichtigsten Erinnerungen haben sich dann bereits zu einem neuen Bezugsrahmen geformt, der wesentlich vielfältiger ist als jede Beschreibung. Es wäre ein weiter Weg für einen Computer, zu ähnlicher Qualität zu gelangen – oder nicht?
Max Handschin