HERZBLUT
29.10.2024 Gesellschaft«Promillewägli»
«Wenn du das Grosse auf ex austrinkst, bezahle ich dir noch eins.» Da lässt sich ein notorisch abgebrannter 16-Jähriger nicht zweimal bitten. Einmal tief durchgeatmet, das Bierglas entschlossen mit beiden Händen ...
«Promillewägli»
«Wenn du das Grosse auf ex austrinkst, bezahle ich dir noch eins.» Da lässt sich ein notorisch abgebrannter 16-Jähriger nicht zweimal bitten. Einmal tief durchgeatmet, das Bierglas entschlossen mit beiden Händen gegriffen und runter damit.
Ich habe den Umgang mit Alkohol im «Hirschen» gelernt, als frisch Konfirmierter. Meine Lehrer waren richtige Männer, wie ich fand: Bartwuchs, schon ein eigenes Auto, «Nötli» im Portemonnaie, trinkfest. Der Legende nach konnte einer von ihnen bechern bis zum Kotzen – und anschliessend weitersaufen. Ein anderer soll die Fähigkeit gehabt haben, den Schluckreflex zu kontrollieren: Keiner soff so schnell wie er. Was habe ich sie bewundert. Ein Dritter arbeitete beim «Feldschlösschen» und brauchte fürs Bier keinen Rappen zu bezahlen. Ihn habe ich beneidet. Aus heutiger Sicht war die Verehrung meiner Lehrmeister wohl etwas naiv, zumal sie objektiv betrachtet nicht sehr gewissenhaft waren: Weder haben sie jemals auf das Suchtrisiko von Alkohol hingewiesen, noch mich vor körperlichen Reaktionen wie plötzlichem Erbrechen, nicht enden wollendem Schwindel oder satanischen Kopfschmerzen gewarnt.
Doch allzu hart sollte ich mit ihnen nicht ins Gericht gehen. Immerhin haben sie mir mit auf den Lebensweg gegeben, dass nach zwei Flaschen Bier oder vier Gläsern «Sissa mit» die Hauptverkehrsachsen zu meiden sind, will man am Steuer nicht in einer Alkoholkontrolle hängen bleiben: die Polizei, dein Feind und Spielverderber. Im «Hirschen-Säli», der Turbo-Trinker stand Schmiere, breitete der Kotzer auf dem Flipperkasten eine Strassenkarte aus, auf der die «Promillewägli» nach Rothenfluh mit Leuchtstift markiert waren: gelb für die Diegter Tanzparty, rosa für den Anwiler Maskenball oder grün für die Hemmiker «Hurricane Night». Alle «Schmiir»- frei, wie mir versichert wurde. Dafür mit erhöhtem Unfall-Potenzial: Der steile Abschnitt des «Hoochi-Goochy-Promillewäglis» von Wenslingen her zum Beispiel war auf der Karte mit einem Totenköpflein markiert. Für einen sich unverwundbar fühlenden Halbstarken ein Grund mehr, Route «Blau» auszuprobieren. Keine Ermahnung und kein Verbot eines Erwachsenen hätte mich davon abgehalten.
Jetzt bin ich selber einer und noch dazu Vater einer Tochter auf der Schwelle zum Erwachsensein. Ich mache mir Sorgen, wenn ich aus ihrem Mund «Schöttli» oder «Wodka» nur schon höre. Wie gehe ich es an? Aus eigener Erfahrung weiss ich, dass Verbote in dieser Lebensphase kontraproduktiv sind. Eine feinere Klinge ist gefragt: Kommt sie mir beim Thema Alkohol am Steuer mit einem coolen Spruch wie «alles unter Kontrolle, Alte», werde ich ihr keinen Vortrag über höhere Risikobereitschaft und geringere Reaktionszeit halten. Sondern ihr ein Foto von einem Unfallopfer zeigen. Einem Menschen, der selber nicht betrunken Auto gefahren ist, sondern starb, weil er zur falschen Zeit am falschen Ort war.
Meine «Promillewägli» werde ich dann und auch in Zukunft für mich behalten. Nur, um die Wirkung meiner Alkoholerziehungsmethode nicht zu verwässern, versteht sich.
Christian Horisberger, stv. Chefredaktor «Volksstimme»