HERZBLUT
15.10.2024 GesellschaftSeien Sie ignorant!
Jeder Computerfreak kennt diesen Frust: Man erklärt jemandem zum gefühlt hundertsten Mal, wie etwas funktioniert, und die einzige Frage zum Schluss ist: «Wo muss ich klicken?» Ähnliches passiert jedem, der sich mit etwas ...
Seien Sie ignorant!
Jeder Computerfreak kennt diesen Frust: Man erklärt jemandem zum gefühlt hundertsten Mal, wie etwas funktioniert, und die einzige Frage zum Schluss ist: «Wo muss ich klicken?» Ähnliches passiert jedem, der sich mit etwas auskennt und es mit Laien zu tun bekommt. Dem Imker genauso wie dem Architekten oder dem Bodenleger.
Aber statt uns über diese Ignoranz zu ärgern, sollten wir uns vielleicht fragen, welche Chancen sie bietet, die wir «Experten» nicht mehr haben. Wie es die berühmteste Rebellin der jüngeren Geschichte sagt: «Das habe ich noch nie vorher versucht, also bin ich völlig sicher, dass ich es schaffe.» In diesem Zitat von Pippi Langstrumpf steckt mehr Weisheit, als man auf den ersten Blick vermuten mag. Denn es mag uns anstrengen, wenn jemand ohne Ahnung, aber voller Enthusiasmus das Rad neu erfinden will. Dabei zeigt die Geschichte der Zivilisation, dass wohl mehr bahnbrechende Innovationen unbedarfter Begeisterung zu verdanken sind als dem systematischen «Er-finden».
Ich singe nicht das Hohelied der Torheit. Ich überlasse das dem amerikanischen Filmgenie Orson Welles. Auf die Frage, wie er auf all die technischen Neuerungen für seinen Film «Citizen Kane» gekommen sei, ruft er: «Totale Ignoranz! Ich wusste nicht, was mit der Kamera ‹nicht möglich› ist, und der Kameramann akzeptierte nicht, dass es ‹nicht möglich› sein soll.»
Künstler wissen, dass Neues sich vor allem dann schaffen lässt, wenn man Grenzen überschreitet. Muss man sie dazu wirklich zuerst kennen? Ignoranz verleiht doch offenbar die grösste Freiheit. Allerdings liegt der Unterschied zwischen Ignoranz und bewusster Entdeckung im Risiko.
Eine Klettertour im dichten Nebel ist vielleicht freier, wenn man nicht angeseilt ist. Wer aber den Nutzen des Sicherungsseils kennt, hat die weitaus besseren Chancen, von seinen Grenzerfahrungen zu berichten. Wie der Computeranwender, der weiss, warum man gelegentlich auf das Diskettensymbol klickt.
Zumal es in Zeiten der künstlichen Intelligenz schwieriger wird, ignorant zu sein. Die Maschinen greifen für ihre Kreationen, egal ob Texte, Bilder, Übersetzungen oder Musik, sozusagen auf das gesamte Weltwissen zurück. Ob ein fetziger Schottisch wie von der Ländlerkapelle «Echo vom Hauenstein» oder ein impressionistisches Gemälde à la van Gogh: Die Anwendungen im Internet spucken es auf Anfrage in Sekunden aus. Und was dabei herauskommt, ist jedenfalls mehrheitsfähig. Sprich: hitverdächtig.
Was es nicht ist, ist Kunst. Es ist eine Kopie. Denn die Maschine weiss, «wo sie klicken muss» – aber mehr nicht. Ihre «Werke» haben keine Entstehungsgeschichte, keinen Charakter, keine Seele. Das macht Kinderzeichnungen so wertvoll: Sie sind das Gegenteil dessen, was Künstliche Intelligenz ausspuckt.
Wenn Sie also das nächste Mal etwas erklären müssen, was Sie mit Herzblut studiert haben: Ärgern Sie sich nicht über die Ignoranz Ihrer Zuhörerinnen. Sondern freuen Sie sich über das Interesse – und das Potenzial, das in diesem geballten Nicht-Wissen steckt.
Peter Sennhauser, Redaktor «Volksstimme»