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03.09.2024 BaselbietAmeisenhaufen und Nervensystem
Haben Sie schon einmal einen Ameisenhaufen betrachtet? Gelegentlich hat man das Gefühl, er sei leer und beheimate keine Ameisen mehr. Dann entdeckt man, dass doch Bewegung drin ist, und bei genauerem Hinschauen ist es wie ein ruhiges ...
Ameisenhaufen und Nervensystem
Haben Sie schon einmal einen Ameisenhaufen betrachtet? Gelegentlich hat man das Gefühl, er sei leer und beheimate keine Ameisen mehr. Dann entdeckt man, dass doch Bewegung drin ist, und bei genauerem Hinschauen ist es wie ein ruhiges Treiben. Beobachtet man einzelne Ameisen, dann realisiert man, dass jede etwas anderes tut, sich vielleicht für einen kurzen Moment mit einer anderen trifft, umkehrt oder einer anderen Ameise beim Transport einer Tannennadel oder eines Holzstücks hilft. Die Ameise kann sich aber plötzlich wieder entfernen, sodass eine andere Helferin die Aufgabe übernimmt. Wie wird das gesteuert, wie kommunizieren die Ameisen untereinander und wie ist der ganze Haufen organisiert?
Ähnliches erlebt man, wenn man erfassen will, wie das Gehirn funktioniert. Auch dort geschehen Abläufe, die von aussen her gesehen sinnvoll ablaufen und als Gesamtheit dem äusserst komplexen Geschehen ähneln, das wir bei den Ameisen erleben. Auch beim Nervensystem stellt sich die Frage, wie sich die ganze Organisation aufbaut. Ich durfte während meiner Ausbildung in London einmal in einem Labor einer Neurowissenschaftlerin einem Zellhaufen von Neuronen zusehen, wie er seine zielgerichtete Ausbreitung hin zu einem Muskel ausführte und schliesslich beim Erreichen diesen zum Zucken brachte. Stellte man ihm Hindernisse in den Weg, umging er diese und erreichte sein Ziel dennoch. Vielleicht war dieses erstaunliche Verhalten der Nervenzellen der Anfang meiner Faszination für das Gehirn und das Nervensystem.
Vielfältige Zelle
Wieso sich die Nervenzelle so verhält, dass sie schliesslich einen Muskel zum Bewegen bringen kann, lässt sich nur so erklären, dass sie diese Fähigkeit mit auf den Weg bekommen hat. Sicher haben Sie den Begriff «Stammzelle» schon gehört. Damit sind Zellen gemeint, die sich noch in alle Formen und Funktionen ihrer Zellart entwickeln können. Sie spielen in der Embryo-Entwicklung ihre wichtigste Rolle. Je nach Stimulation und Anforderung durch die Umgebung übernehmen sie vorübergehend oder für längere Zeit eine Funktion, die sinnvoll in die Gesamtheit passt. Im Lauf des Wachstums und der Differenzierung des Nervensystems können sie auch andere oder spezifische Funktionen übernehmen. Sie behalten aber ihre angeborene Vielfalt und können reagieren, wenn sich die Ansprüche ändern.
So kann eine Nervenzelle, die ihre Funktion im Gehirn im Sehzentrum hatte, bei Erblindung der Person eine andere Funktion übernehmen, da sie keine stimulierenden Impulse mehr erhält. Vielleicht wird sie bei der Verwertung von Gehörtem benötigt und sie übernimmt die neue Funktion. Ähnlich läuft es während der Entwicklung des Gehirns, das mit Abbau oder Umbau von nicht mehr genutzten oder benötigten Zellen reagiert oder umgekehrt viel benutzte Zellen zu «Schnellstrassen» ausbaut oder einzelne Zellen zunehmend besondere Funktionen erfüllen.
Fehlinformation erkennen
Früher wurde uns gelehrt, dass Nervenzellen ihren Höhepunkt beim Menschen im Alter von 30 bis 40 Jahren erreichen und dann abbauen. Heute weiss man, dass ihre vielseitigen Fähigkeiten lebenslang funktionieren – man nennt das Neuroplastizität. Es ist die Erkenntnis, dass die Eigenart von Synapsen (Verbindungsstellen) und Nervenzellen oder auch ganzen Hirnarealen sich zwecks Optimierung laufender Prozesse in ihrer Aufgabe und Funktion verändern können, abhängig von den Ansprüchen, die an sie gestellt werden.
Dieser lebenslange Wandel hat nichts damit zu tun, dass die Nervenzelle im Lauf der Zeit intelligenter geworden ist, sondern damit, dass sie eine bewundernswerte Vielfalt an Eigenschaften mitgebracht hat, die ständig mit neuen Formen der Zusammenarbeit reagieren kann. Da sich Milliarden von Zellen in unserem Nervensystem ständig auf komplexe Weise austauschen, lässt es sich erahnen, wie schwierig es ist, in der Erforschung des Systems genaue Regeln zu finden.
Nur schon der Aufbau des Nervensystems. Störungen der Durchblutung aufgrund eines Mangels in der Energieversorgung oder äusserer Belastung mit Kälte, Hitze oder Klima beantwortet das Nervensystem mit einer Reorganisation, welche die vielschichtigen Eigenschaften der einzelnen Nervenzellen ausnützt. Es funktioniert erstaunlich. Fällt beim Ameisenhaufen ein Tannenzapfen von oben drauf, reagieren die Ameisen sofort, und es lässt sich beobachten, wie die Funktionsweise des Haufens wieder organisiert wird. Möglich ist dies ebenfalls wegen der vielseitigen Fähigkeiten der Ameisen, die sie mitgebracht haben und in einem solchen Moment in komplexer, fast magisch wirkender Art anwenden.
Ähnlich stelle ich mir die Reaktion im Gehirn vor, wenn es zu einem Schlaganfall oder einer anderen Störung kommt. Deshalb hilft mir das Verhalten der Ameisen, eine Ahnung davon zu bekommen, wie wir uns das Nervensystem in seiner Komplexität vorstellen könnten. Wichtig scheint mir, dass sich diese zusammenwirkenden Eigenschaften sowohl im Nervensystem als auch bei den Ameisen über Jahrmillionen verfeinert und vielschichtig entwickelt haben.
Zurzeit werden wir von Informationen überflutet, von denen ein zunehmender Teil manipuliert und verfälscht ist. Kann unser Nervensystem aus diesem Haufen verlässliche von unverlässlichen Meldungen oder Darstellungen unterscheiden? Sicher bräuchte es dazu eine Anpassungszeit, um die Spreu vom Weizen trennen zu können. Der Ameisenhaufen hat es einfacher. Auch dort ändern sich zwar die Umgebung und die Umwelteinflüsse ständig, aber in einem doch langsameren Rhythmus, der es erlaubt, dass die mitgebrachten Variationsmöglichkeiten der Ameisen genügen könnten.
Klarheit über die Informationsquellen und die Möglichkeit, Fehlinformationen zu verfolgen, wären die Voraussetzung für uns Menschen, damit wir nicht überfordert sind. Da staunte ich bei meinem Enkel, der meiner Tochter eine Frage stellte, und als diese die Antwort auf dem Mobiltelefon suchte, sagte: «Nein, ich schaue lieber im Lexikon nach, dem Internet glaube ich nicht.» Für mich wäre das ein Lichtblick, wenn bereits eine Anpassung im Gange wäre. Aber ist sie vielfältig und rasch genug? Hoffen wir, die Nervenzellen haben auch diese Fähigkeiten mit eingebaut und helfen uns dabei, einen Weg zu finden.
Max Handschin