HERZBLUT
03.09.2024 GesellschaftAlte!
«Der Alte hat da aber noch ein Wörtchen mitzureden!» Den wütenden Ausruf meines Vaters, das anschliessende Knallen der Türe und das Rieseln des Mörtels von der Bruchsteinmauer meines Kinderzimmers habe ich noch gut in Erinnerung. Womit ...
Alte!
«Der Alte hat da aber noch ein Wörtchen mitzureden!» Den wütenden Ausruf meines Vaters, das anschliessende Knallen der Türe und das Rieseln des Mörtels von der Bruchsteinmauer meines Kinderzimmers habe ich noch gut in Erinnerung. Womit ich ihn an jenem Tag auf die Palme gebracht hatte, ist aus meinem Gedächtnis gelöscht, «der Alte» hingegen ist hängen geblieben. Vielleicht deshalb, weil meine Geschwister und ich unseren Vater auch untereinander nie «der Alt» genannt haben und ich deswegen nicht kapiert habe, weshalb er sich mir gegenüber so bezeichnete.
Ich musste Vater einer jungen Erwachsenen werden, um das Rätsel zu entschlüsseln. Wenn ich heute von mir selbst als «der Alte» spreche, dann nicht, weil das Knie beim Treppensteigen knackt oder ich zum Erkennen der Strassenschilder die Augen zusammenkneifen muss, sondern im Streit mit meiner Tochter: Perfide juble ich ihr damit Respektlosigkeit unter (die sie mir so gar nicht entgegengebracht hat).
Doch verfehlt das Manöver seine Wirkung völlig. Denn in ihrem Wortschatz wäre ich als «Alte» ein Kumpel, mit der sie «chillt» beziehungsweise «abhängt». «Alte» mit langgezogenem «a», so hat mir meine Tochter beigebracht, ist eng verwandt mit «Bro» oder «Digga». Dagegen verbindet «Homies» eine engere Freundschaft und «BFFs» sind beste Freunde fürs Leben.
Für die folgende Jugendslang-2024-Unterrichtsstunde mit meiner 17-jährigen Tochter als Lehrerin setzte ich mich in die erste Reihe. Ich fand es ziemlich toll, dass sie sich darauf einliess, was ich ihr auch sagte. Worauf sie mir auf die Finger klopfte: «Voll der Fail, Digga!» Etwas Cooles sei nämlich «lit» oder «fresh», etwas Grossartiges «epic». Obwohl Anfänger, war mir der Ausrutscher etwas peinlich oder unangenehm: «cringe» eben.
Als sie fragte, was ich mir unter «ghosten» vorstellen könnte, riet ich drauflos: «Ohne Erklärung den Kontakt abbrechen und nicht mehr auf Nachrichten reagieren?» «Slay», quittierte sie und meinte damit, dass ich das sehr gut gemacht habe. Alternativ benütze man «slay» im Übrigen auch, um jemandem zu sagen, dass er oder sie fantastisch aussieht. Dieser Hinweis sei rein informeller Natur und ich solle ihn keinesfalls persönlich nehmen, neckte sie mich. Und fuhr fort: Sei eine Provokation gar nicht liebevoll gemeint oder behandle man jemanden respektlos und abwertend, sei von «dissen» die Rede.
Daraufhin wollte ich wissen, was sich die Jungen heutzutage sagen, wenn sie jemanden nicht «dissen», sondern sehr mögen. Wenn man sehr gute «Vibes» für eine Person hat und mit ihr Sex haben möchte, spreche man von «smashen», erklärte sie, und fuhr fort: «Let’s smash» könne spielerisch als Aufforderung verwendet werden, um … «Ich habe schon verstanden», fiel ich ihr ins Wort, «keine Details, bitte.» Darauf sie: «Chill mol, Alte!»
Ich dachte zurück an jene Szene in meinem Kinderzimmer und malte mir aus, wie mein Vater reagiert hätte, wenn ich damals zu ihm gesagt hätte: «Chill mol, Alte!»
Christian Horisberger, stv. Chefredaktor «Volksstimme»