HERZBLUT
09.07.2024 Gesellschaft«Chnuppere»
Es gab eine Zeit, als man sich in ein fremdes Auto setzen, den Zündschlüssel drehen und ohne Weiteres losfahren konnte. Es war sicher nicht verkehrt, vor der Abfahrt am Radio den Lieblingssender einzustellen und zu checken, wie auf- und ...
«Chnuppere»
Es gab eine Zeit, als man sich in ein fremdes Auto setzen, den Zündschlüssel drehen und ohne Weiteres losfahren konnte. Es war sicher nicht verkehrt, vor der Abfahrt am Radio den Lieblingssender einzustellen und zu checken, wie auf- und abgeblendet und wie der Rückwärtsgang eingelegt wird, mehr Vorbereitung brauchte es aber nicht. Autos waren selbsterklärend und markentypische Eigenheiten beschränkten sich auf Details wie die Position des Zündschlosses oder die Entriegelung der Motorhaube. Letzteres ergab auch Sinn: Mit einem Hammer, einem Sackmesser, einer Rolle Panzerband und einem bisschen Sachverstand liessen sich kleinere Pannen so weit beheben, dass es noch für die Fahrt zur Werkstatt reichte.
Heute aber steckt sogar in einem Opel Corsa komplexere Elektronik als in einer Apollo-Mondrakete von damals. Ohne Diplom, Zertifikat und Hightech-Equipment kann auch ein gelernter Automech unter der Motorhaube nicht mehr viel ausrichten. Und der Laie ist selbst fürs Auffüllen des Scheibenreinigertanks ohne Bedienungsanleitung plus Konsultation diverser Erklär-Videos auf Youtube aufgeschmissen.
Die Hightech-Welle hat nun auch das Velo mit voller Wucht erfasst, wie ich kürzlich erfahren musste. Dank Motor und Akku sind Alpenpässe und anspruchsvolle Geländerouten, die zuvor Könnern vorbehalten waren, zum Allgemeingut geworden – aber nur, solange die Technik mitspielt. Streikt sie, rückt für den untrainierten E-Biker nicht nur das Gipfelerlebnis in unerreichbare Sphären, auch benimmt sich das moderne Velo wie ein Auto: Unter Androhung des Garantieverfalls verlangt es via Fehlercode einen Termin bei einem autorisierten Mechaniker.
Ich wollte also zu einer Radtour aufbrechen, das E-Bike nicht: Der Motor liess sich trotz voll geladenem Akku nicht über die Start-Taste aktivieren. Ob ich die Software zum Kollabieren gebracht hatte, als ich auf der letzten Tour versuchte, das Bike via App auf dem Smartphone von der 25-km/h-Schnecke zur 45er-Rakete zu tunen? Das behielt ich freilich für mich, als ich einen Velomech einer Markenvertretung telefonisch um Rat bat.
Während des Gesprächs fand der Mechaniker heraus, dass ich in der App eine Diagnose für mein Velo erstellt und ins Internet hochgeladen hatte (was mich ebenso erstaunte wie freute), die er bei sich in der Werkstatt anschauen konnte. Das Velo sei kerngesund, verkündete er. Ich bot ein fehlerhaftes Signal als mögliche Ursache für den Defekt an. Vielleicht streikt das Velo ja, weil es denkt, die Klappe der Ladebuchse sei geöffnet, schlug ich vor. Der Mechaniker bezweifelte dies und riet mir stattdessen, die Batterie im «Cockpit» zu ersetzen. Und er warnte mich vor, dass der Austausch der Knopfzelle ziemlich knifflig sein könne. «Chnuppere» sei mein zweiter Vorname, sagte ich lässig, dankte und legte auf.
Vier Stunden, drei Youtube-Videos und zwei Baumarktbesuche später stand ich mit dem Velo in der Werkstatt und streckte dem Mechaniker eine Knopfzelle, mehrere Pinzetten und anderes «Chnupperi»-Werkzeug entgegen: «Wir haben heute telefoniert …»
Christian Horisberger, stv. Chefredaktor «Volksstimme»