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23.07.2024 BaselbietDie Natur des menschlichen Gehirns
Robert Sapolsky schrieb ein Buch über Determinismus, eine Lehre, die aussagt, dass alles, was passiert, durch Bedingungen bestimmt ist, die zu einem bestimmten Zeitpunkt feststehen oder festgestanden haben. Er arbeitete auf den ...
Die Natur des menschlichen Gehirns
Robert Sapolsky schrieb ein Buch über Determinismus, eine Lehre, die aussagt, dass alles, was passiert, durch Bedingungen bestimmt ist, die zu einem bestimmten Zeitpunkt feststehen oder festgestanden haben. Er arbeitete auf den Gebieten der Neurowissenschaft, der Neurobiologie und studierte das Verhalten des Menschen und in einem Nationalpark in Kenia dasjenige von Pavianen.
Im Buch schildert er eine Anekdote aus seiner Studienzeit, die sich die Studierenden häufig wieder erzählten: Einer seiner Professoren, William James, hatte einen Vortrag gehalten über die Natur des Lebens und des Universums. Nach der Vorlesung kam eine alte Frau auf ihn zu und sagte: «Professor James, Sie liegen völlig falsch.» Daraufhin fragte dieser: «Wieso denn, Madam?» Die Frau antwortete: «Es ist überhaupt nicht so, wie Sie sagen. Die Welt liegt auf dem Rücken einer gigantischen Schildkröte.» «Hmm …», so der Professor und fügte hinzu: «Das mag ja sein, aber wo steht diese Schildkröte?» «Auf dem Rücken einer anderen Schildkröte», antwortete die Frau. «Aber Madam», sagte James nachsichtig, «wo steht denn diese Schildkröte?» Worauf die alte Frau unerschüttert antwortete: «Es hat keinen Sinn, Professor James, es sind immer Schildkröten, eine auf der andern, bis nach unten!»
Sapolsky schildert, wie sehr er und seine Studienkollegen diese Geschichte liebten und sie immer mit demselben Tonfall nacherzählten. Sie fanden, dass sie dadurch witzig, prägnant und attraktiv wirkten. Sie benutzten diese Anekdote als Spott, als abwertende Kritik an jemandem, der sich konsequent unlogisch verhält. Es mag lächerlich und unsinnig erscheinen, etwas zu erklären, indem man auf eine unendliche Anzahl von Schildkröten auf dem Weg nach unten zurückgreift, aber in Wirklichkeit ist es noch unsinniger zu glauben, dass irgendwo da unten eine Schildkröte in der Luft hängt. Sie wurden zurückhaltender, nachdem sie realisierten, dass sich das Gehirn ähnlich verhält.
Sucht man nach Ursachen für eine Entscheidung, so kommt man nicht um die Tatsache herum, dass vorausgegangene Fakten immer irgendwie eine Rolle spielen. Wie läuft ein solcher Entscheidungsprozess ab? Sicher sind Aktionen von Neuronen dabei, die in diesem oder jenem Teil des Gehirns in der vorangegangenen Sekunde aktiv waren. Auch in den Sekunden bis Minuten davor wurden diese Neuronen durch einen Gedanken, eine Erinnerung, ein Gefühl oder äussere Reize aktiviert. Und in den Stunden bis Tagen vor dem Auftreten dieses Verhaltens haben die Hormone, der Stoffwechselzustand oder der Blutkreislauf diese Gedanken, Erinnerungen und Gefühle mitgeformt und die Empfindlichkeit des Gehirns gegenüber bestimmten Umgebungsbedingungen verändert. Und in den vorangegangenen Monaten bis Jahren veränderten Erfahrung und Umwelt die Funktionsweise dieser Neuronen, indem sie einige dazu veranlassten, neue Verbindungen zu knüpfen, erregbarer zu werden oder zu anderen die Verbindungen zu reduzieren. Und von dort aus müssen wir oft Jahrzehnte zurückgehen, um die vorangegangenen Ursachen zu identifizieren.
Wechselwirkungen
Um zu erklären, warum ein bestimmtes Verhalten auftrat, muss man anerkennen, dass sich in der Jugend eine Schlüsselregion des Gehirns noch im Aufbau befand. Dies ist der Frontallappen, der für die Steuerung der Emotionen, für die Entscheidungsfindung und das Gedächtnis verantwortlich ist. Er bewirkt massgeblich das Einfügen in die uns umgebende Gesellschaft und Kultur.
Wenn wir noch weiter zurückgehen, müssen wir auch die Wirkung der vererbten Gene und die Steuerung dieser Gene, die sogenannte Epigenetik, und deren Auswirkungen auf das Verhalten berücksichtigen. Aber wir sind noch nicht fertig. Das liegt daran, dass alles früh angefangen hat. Auf welche Art wir innerhalb weniger Minuten nach der Geburt bemuttert wurden, wie wir von der uns umgebenden Kultur beeinflusst und aufgenommen wurden, wie reich oder arm unsere Umgebung war. Auch jahrhundertelange ökologische Faktoren, die Art von Leben, die unsere Vorfahren erfunden haben, und der Erfolgsdruck der Gruppe von Menschen, mit denen wir zusammengekommen sind, haben uns geformt.
Warum also ist jetzt genau dieser Entscheid gefallen? Aufgrund von biologischen und umweltbedingten Wechselwirkungen, wie bei den geschilderten Schildkröten, den ganzen Weg hinunter. Alle spielen eine Rolle, keine kann sich davonschleichen, zuunterst ist bereits fester Boden. So lächerlich das Bild zuerst gewirkt hat, veranschaulicht es die tieferen Zusammenhänge, die mitspielen, auch wenn wir glauben, nur die oberste sichtbare Schildkröte treffe die Wahl und trage die Welt.
All diese Überlegungen führen schliesslich zur Frage, wie stark wir durch unsere Vergangenheit beeinflusst sind. An einem Vortrag zum Thema des freien Willens versuchte ich anhand meines eigenen Werdegangs die Episoden zu finden, bei denen ich eindeutige Entscheidungen getroffen hatte. Ich schaffte es kaum. Immer wieder waren äussere Umstände, Zufälle, innere Grundhaltungen, der vorherrschende Zeitgeist, die familiäre Situation oder die wirtschaftlichen Entwicklungen viel entscheidender für den nächsten Schritt in meinem Leben. Ich kann also nicht sagen, dass ich das Besondere, das Befriedigende, die Anerkennung in meinem Beruf selbst geschaffen hätte.
Was hindert Menschen am sogenannten sozialen Aufstieg? Wie geht es den Kriminellen oder den Mächtigen in unserer Gesellschaft? Haben diese sich für ihre Karriere entschieden, oder waren nicht äussere Umstände wie Herkunft, Gesellschaft, Kultur und Zeitgeist ebenso wichtig?
Entscheiden wir frei?
Unser Rechtssystem oder unser politisches System, unser Bedürfnis nach Anerkennung, das Recht auf Besitz oder auf Erreichtes fokussieren alle darauf, dass wir frei entscheiden können. Diese Entscheide werden jedoch wesentlich von Vorausgegangenem mitgeprägt. Das geltende Rechtssystem geht davon aus, dass wir unsere Taten aus eigenem Willen vollzogen haben und uns dafür verantworten müssen. Geraten wir selbst mit dem Gesetz in Konflikt, verändert sich sofort die Sichtweise. Es ist dann nicht mehr der freie Wille, der für die Verfehlung verantwortlich ist, sondern oft werden äussere Umstände als Ursache angeführt. Hingegen glauben wir gerne daran, dass ein Aufstieg in der Gesellschaft dem eigenen Schaffen zu verdanken ist, und stellen uns lieber nicht vor, was aus uns geworden wäre, wenn wir in tiefster Armut an einem unwirtlichen Ort mit bedrohlichen äusseren Umständen geboren worden wären.
Natürlich können es Einzelne schaffen, auch unter dieser Umgebung erfolgreich zu werden. Wir nennen es dann Resilienz und bewundern sogenannte Tellerwäscherkarrieren. Wir vermuten, diese hätten es dank ihrem Willen geschafft. Tatsächlich sind auch solche Schicksale viel verwobener mit Glück und Zufällen und beruhen auf einer Unveränderlichkeit und Unerbittlichkeit der Naturgesetze, in die wir eingebunden sind.
Max Handschin